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Vom Ende zum Anfang der Liebe

von Birgit Dechmann und Christine Riffel

Entscheidender als Erfolg ist das Gelingen wichtiger menschlicher Beziehungen. Da hat jeder Mensch seine Chancen.

Die Liebe in der Paarberatung

Wenn Paare ihr gemeinsames Leben beginnen, richten sie ihr Handeln meist an ganz bestimmte Vorstellungen vom Lieben aus, die sich in der Reibung zwischen Idee und Alltag wandeln müssen, wenn ein bereicherndes Zusammenleben über Jahrzehnte möglich werden soll.

Es ist festzustellen, wie Paare, die lange miteinander leben, und die ihre Beziehung als innig und lebendig wahrnehmen, sich einem eigentlichen Paradigmenwechsel (Paradigma = Begriff für ein Denkmuster das die herrschende, wissenschaftliche Orientierung einer Zeit prägt) in ihrer Einschätzung des Liebens erträumen, erleiden bzw. erarbeiten und dadurch ganz neue Formen des Handelns entdecken.

Das Leben in einer Kultur mit der romantischen Liebe als Leitkonzept

Es muss einen Grund haben, dass die Zweierbeziehung derart im Zentrum menschlichen Sehnens und Wollens steht. Könnte es sein, dass sie noch der menschlichste Versuch aller Grenzüberschreitungen ist, den unsere moderne Zivilisation zur Verfügung zu stellen hat?

„Wenn ich mich schon in der Welt nicht mehr aufgehoben fühle, dann wenigstens bei dir“. Und so beginnt das Du den Sinn des Seins auszumachen.

Die Sehnsucht nach Liebe birgt also eine tiefe Antriebskraft, und ist ein immer wiederkehrendes Thema in den Beratungen.

Die wichtigsten Elemente des romantischen Liebeskonzepts

Der Kernpunkt eines allgemein gültigen Vorstellungsschemas könnte ungefähr folgendermassen lauten:

Liebe ist eine wunderschöne Verbindung zwischen zwei Menschen. Sie ist tief, innig und ganz und gar auf den anderen bezogen. Liebe ist voller Schönheit und Intensität und transformiert den Alltag zu einem glanzvollen Geschehen.

Die ganze Bedeutung dieser Sätze wird sich stets der Kontrolle durch den Verstand entziehen, weil sich das Konzept in vielen Stufen der menschlichen Entwicklung gebildet hat. Sie reichen vom Fötus bis zum Erwachsenen. Das Konzept enthält Beziehungserfahrungen, Ideen, Vorschriften, Körperempfindungen und Handlungen. Das romantische Liebesideal entsteht also nicht im luftleeren Raum und es werden noch weitere Schemata mit ihm assoziiert. Einige spiegeln gesellschaftliche, andere persönliche Bedingungen. Ersteres betrifft beispielsweise die Gussformen der Liebe, das heisst es bilden sich Vorstellungen darüber heraus, in welchem Rahmen das wunderbare Geschehen einmal gelebt werden wird.

Als gesellschaftlich gültiger Rahmen ist für die Liebe vor allem die Ehe vorgesehen. Weit dahinter, aber unermüdlich, folgt ihr die nichteheliche Lebensgemeinschaft. Andere Lebensformen wie die Mehrgenerationenfamilie oder ähnliches, werden eher als Notlösung in Kauf genommen.

Diese Verbindung zwischen romantischem Liebesideal und Ehe ist jedoch lediglich für unsere Kultur und für die derzeitige historische Epoche typisch.

Der in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Wandel der Ehe weg vom Zweckverband und hin zum Gefühlsverbund hängt wahrscheinlich nicht zuletzt mit den veränderten sozialen Stellung von Frauen zusammen, die es sich aufgrund ihrer besseren Bildung leisten können, der Fragen einer materiellen Versorgung weniger Gewicht als früher beizumessen.

Während solche Gussformen der Liebe schon relativ spezifische Vorstellungen über den Rahmen des Geschehens enthalten, ist ein zweites assoziiertes Konzept wesentlich allgemeiner und wird entsprechend wieder frühere Wurzeln haben:

Liebe ist ein grosses, intensives Ereignis, das den Menschen zufällt wie ein Himmelsgeschenk. Wer den Richtigen bzw. die Richtige gefunden hat, bleibt für den Rest seines Lebens glücklich.

Liebe und Geliebtwerden ist als Schicksal das Glück der Besonderen. Spezielle Attribute wie Schönheit, persönliche Ausstrahlung, ein edler Charakter, Einfühlungsvermögen, Charme, Intelligenz, Status, Macht und Durchsetzungskraft erhöhen – geschlechtsspezifisch verteilt – die Chance einmal zu den Auserwählten zu gehören.

Aus einem solchen Konzept resultieren nun Einstellungen und Erwartungen, die empirisch durchaus fassbar sind. Sie beziehen sich auf Eigenschaften, die vom künftigen Prinzen bzw. der Prinzessin erwartet werden. Mit zunehmendem Alter wird das romantische Leitkonzept häufig bewusst durch das etwas sachlichere Bild der gleichberechtigten Partnerschaft ersetzt.

Warum das Nachdenken über die Liebe so wichtig ist.

In ihrem Handeln orientieren sich Menschen an einem inneren Modell der Wirklichkeit. Dieses Modell haben sie im laufe ihres Lebens entwickelt. Es ist nicht identisch mit dem tatsächlichen Geschehen, sondern sein individuell konstruiertes Abbild.

Dieses innere System bringt Ordnung in die Erfahrungen, es ermöglicht Ereignisse gedanklich vorwegzunehmen und das eigene Handeln so zu organisieren, dass es im Einklang mit der inneren Realität steht. Im Zusammenhang mit der Liebe gibt es eine Fülle Kognitionen, die bewusst oder unbewusst die konkreten Beziehungen steuern. Selten sind Denkkonzepte zweier Menschen auch nur annähernd gleichgeschaltet.

Man unterscheidet drei Charakteristika von Denkkonzepten bzw. Schemata oder Kognitionen, die für unsere Arbeit an der Liebe sehr wichtig sind.

  • Eine Reihe von Konzepten haben so etwas wie einen unbewussten und vorsprachlichen Anteil oder liegen gar vollkommen im Unbewussten.
  • Die frühesten Organisationsmuster des Gehirns formen sehr wahrscheinlich die später folgenden, und schränken sie somit in der Variabilität ihrer möglichen Ausprägung ein.
  • Die Beständigkeitskonsequenz führt dazu, dass früher entwickelte Konzepte sehr viel schwerer veränderbar sind als später entstandene.

Das Transformationsmodell und seine erste Stufe: Die Phase der Stimmigkeit

Es geht um die Veränderung von Paradigmen. Wobei „Paradigma“ der griechische Ausdruck für „Muster“ ist und die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten Gedanken, Wahrnehmungen und Wertsetzungen, die die Wirklichkeitsauffassung von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Kultur formen, bezeichnet. Im Zusammenhang mit unserem Thema umfasst es also sämtliche Schemata bzw. Denkkonzepte des Menschen, die in irgendeiner Form mit dem Lieben zu tun haben. Mögen sie nun Ideale, Vorstellungen über die Formen ihrer Verwirklichung, Einstellungen, Erwartungen oder auch Gedanken über die eigenen Grenzen und Möglichkeiten beim Verwirklichen der Liebe betreffen. In der ersten Phase der Transformation postuliert man Stimmigkeit. Dieses subjektive Gefühl der Stimmigkeit, das heisst die Kongruenz zwischen Innen und Aussen, die Übereinstimmung zwischen dem, was der Mensch Erfahrung erwartet bzw. erhofft, und dem, was er erlebt, tritt dann auf, wenn die gedanklichen Konzepte und die Realität subjektiv einander ähneln.

Dem gesamten Prozess der Transformation des Bewusstseins liegt diese erste Stufe zugrunde: Paradigma und Lebenssituation entsprechen einander.

Die Erlebnisqualität in der Phase der Stimmigkeit zeigt sich bei den unterschiedlichsten Menschen sehr ähnlich. Die Art von Intensität können jüngere und ältere Menschen, Männer und Frauen, weniger und mehr Gebildete erleben. Was von aussen gesehen wie eine Art Besessenheit aussehen mag, wird von den direkt Beteiligten immer als individuelles Schicksal, quasi als Lebensbestimmung erlebt.

Die Fehler und Schwächen des anderen werden zwar wahrgenommen, in ihrer Bedeutung aber heruntergespielt oder gar als letztlich positiv eingeschätzt. Im Liebestaumel werden nämlich für einmal die frühesten negativen Beziehungskognitionen wie z.B. die Angst, nicht geliebt zu werden, mit Zauberhand aufgehoben – welches andere Konzept hat sonst noch diese Kraft?

Dieser fast paradiesisch anmutende Zustand lässt sich aber nicht ewig aufrechterhalten, und es treten immer mehr Ereignisse ein, die sich dämpfend auf die grossartige Stimmung auswirken. Sie kündigen die zweite Stufe der Transformation an.

Die zweite Stufe der Transformation: Das Auftauchen von kleinen Anomalien Unter Anomalien verstehen wir alle jene Ereignisse, die das ursprüngliche Paradigma leicht erschüttern. Keineswegs so stark, dass der Einzelne in eine Krise stürzt, aber doch so, dass er die Unstimmigkeiten nicht mehr übersehen kann. Er fühlt sich vielleicht irritiert, verunsichert, meist aber auf eine weniggreifbare und konkrete Art.

Wir treffen noch keinerlei Dramatik an im Beziehungsleben, aber auch nicht mehr jene strahlende Schönheit der romantischen Verliebtheit wie in den Anfängen der Beziehung. Nicht einmal in der Hochstimmung der ersten Phase ging es um eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Liebesideal und Liebesrealität, sondern immer nur um die Fähigkeit, eine solche Stimmigkeit subjektiv herzustellen. Das liegt daran, dass jede Wirklichkeit immer interpretierte Wirklichkeit ist. Auch der heftigste Liebesakt enthält schon Momente, in denen die Potenz gefährdet scheint, oder die Gefühle weniger überwältigend sind, als man es gerne hätte. Auch in der grössten Verliebtheit kennt man Augenblicke der Furcht, nicht wirklich gemeint zu sein. In der ersten Phase des Liebesgeschehens schafft man es aber immer wieder, mindestens noch nachträglich die subjektive Kongruenz, die ideale Wirklichkeit wieder herzustellen.

In der nächsten Phase geht es um den unaufhaltsamen Verlust der Stimmigkeit.

Die dritte und vierte Phase der Transformation: Krisen und Bewältigungsansätze Wenn das Erleben von Anomalien anhält und sämtliche Versuche des Menschen, sie zu negieren und auszuschalten, nichts nutzen, dann ist mit einer Krise zu rechnen.

In der Krise klaffen Konzept und Wirklichkeit nunmehr offen auseinander. Es kommt zu einer Alarmreaktion. Typisch ist, dass die Krise nicht als konzeptuelles Problem wahrgenommen wird, sondern als fehlerhafte Wirklichkeit. Dementsprechend gilt nach wie vor das bisherige Paradigma als richtig, obwohl die Ereignisse in der Lebenswelt des Menschen, zunehmend nicht mehr im Einklang mit diesem Paradigma stehen.

In der Krise ergeht es den ehemals glücklich Liebenden genau so, sie greifen zu unergiebigen und simplifizierenden Erklärungsmustern, die das Scheitern der Wirklichkeit aufzeigen, das Paradigma aber unangetastet lassen.