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Grundformen der Angst

von Fritz Riemann

Entscheidender als Erfolg ist das Gelingen wichtiger menschlicher Beziehungen. Da hat jeder Mensch seine Chancen.

Die Antinomien des Lebens (Widersprüchlichkeit!)

Revolution - Umwälzung - Sonne - Erde - Fliehkraft/Zentrifugalkraft - Schwerkraft/Zentripetalkraft - Rotation/Eigendrehung

Wir werden in eine Welt hineingeboren, die vier mächtigen Impulsen gehorcht:

Unsere Erde umkreist in bestimmtem Rhythmus die Sonne, bewegt sich also um das Zentralgestirn unseres engeren Weltsystems, welche Bewegung wir als Revolution, „Umwälzung“ bezeichnen.

Gleichzeitig dreht sich dabei die Erde um ihre eigene Achse, führt also die Rotation, „Eigendrehung“ benannte Bewegung aus.

 

Damit sind zugleich zwei weitere gegensätzliche bzw. sich ergänzende Impulse gesetzt, die unser Weltsystem sowohl in Bewegung halten, wie diese Bewegung in bestimmte Bahnen zwingen: die Schwerkraft und die Fliehkraft.

Nur die Ausgewogenheit dieser vier Impulse garantiert die gesetzmässige, lebendige Ordnung, in der wir leben, die wir Kosmos nennen.

Der Mensch als Bewohner der Erde und als winziges Teilchen des Sonnensystems ist auch dessen Gesetzmässigkeiten unterworfen. Er trägt damit die beschriebenen Impulse als unbewusste Triebkräfte und zugleich als latente Forderung in sich was zu sehr überraschenden Entsprechungen führt. Wir brauchen nämlich nur jene Grundimpulse auf der menschlichen Ebene ins Psychologische zu übersetzen, also nach ihren Entsprechungen im seelischen Erleben zu fragen, dann stossen wir auf die erwähnten Antinomien, zwischen denen unser Leben ausgespannt ist, und wie wir sehen werden, zugleich auf jene Grundformen der Angst, die im Zusammenhang damit stehen und so einen tieferen Sinn bekommen.

Die erste Antinomie enthält die gegensätzlichen Forderungen, dass wir sowohl wir selbst werden als uns auch in überindividuelle Zusammenhänge einfügen sollen.

  • Der Revolution, der Bewegung um die Sonne, als unserem Zentralgestirn, entspräche die Forderung, sich einzuordnen in ein grösseres Ganzes, unsere Eigengesetzlichkeit, unser eigenes Wollen zu begrenzen zugunsten überpersönlicher Zusammenhänge.
  • Der Rotation, der Eigendrehung entspräche psychologisch Sinngemäss die Forderung zur Individuation, also dazu ein einmaliges Einzelwesen, ein Individuum zu werden.

Die zweite Antinomie enthält die wiederum gegensätzliche Forderung, dass wir nach Dauer und andererseits nach Wandlung streben sollen.

  • Dem Zentripetalen, der Schwerkraft entspräche auf der seelischen Ebene unser Impuls nach Dauer und Beständigkeit.
  • Dem Zentrifugalen, der Fliehkraft entspräche der Impuls, der immer wieder vorwärts, zur Veränderung und Wandlung treibt.

Die vier grundlegenden Forderungen

Revolution / Umwälzung

  • Forderung: Sich der Welt, dem Leben u. den Mitmenschen vertrauend öffnen, sich einlassen mit dem nicht Ich, dem Fremden, in Austausch treten mit dem Ausser-uns-Seienden.
  • Angst: Gemeint ist- im weitesten Sinne- die Seite der Hingabe an das Leben. Angst, unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden, uns auszuliefern, unser Eigensein nicht angemessen leben zu können, es anderen zu opfern und in der geforderten Anpassung zu viel von uns selbst aufgeben zu müssen.

Rotation / Eigendrehung

  • Forderung: Ein einmaliges Individuum werden, unser Eigensein bejahen und sich gegen andere abgrenzen. Unverwechselbare Persönlichkeit sein, kein austauschbarer Massenmensch.
  • Angst: Daraus entsteht die Angst, die uns droht, wenn wir uns von anderen unterscheiden und dadurch aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten würde.

Fliehkraft / Zentrifugalkraft

  • Forderung: Bereitschaft uns zu wandeln. Veränderungen und Entwicklungen bejahen, Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohntes hinter uns zu lassen, uns immer wieder vom gerade Erreichten lösen, Abschied zu nehmen, alles nur als Durchgang zu erleben. Uns immer lebendig weiterzuentwickeln uns nicht aufzuhalten, nicht zu haften, dem neuen geöffnet, das Unbekannte wagend.
  • Angst: Angst durch Ordnungen, Notwendigkeiten, Regeln und Gesetze, durch den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt und festgehalten zu werden, eingeengt, begrenzt zu werden in unseren Möglichkeiten und unserem Freiheitsdrang.

Schwerkraft / Zentripetalkraft

  • Forderung: Die Dauer anstreben. Auf der Welt häuslich nieder-lassen und einrichten, in die Zukunft planen, ziel-strebig sein als ob wir unbegrenzt leben würden, als ob die Welt stabil wäre und die Zukunft voraus-sehbar, als ob wir mit Bleibendem rechnen könnten mit gleichzeitigen Wissen dass unser Leben jeden Augenblick zu ende sein kann. Uns in eine unge-wisse Zukunft zu entwerfen, überhaupt Zukunft zu haben.
  • Angst: Damit ergeben sich alle Ängste, die mit dem Wissen um das Vergängliche, um unsere Abhängigkeit, um die irrationale Unberechenbar-keit unseres Daseins zusammenhängen. Angst vor dem Wagnis des Neuen, vor dem planen ins Ungewisse, davor, sich dem ewigen Fliessen des Lebens zu überlassen, das nie still-steht und auch uns selbst wandelnd ergreift.

Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens

Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe.

Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.

Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äussere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben.

Zusammengefasst vier Grundformen der Angst:

  • Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt.
  • Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt.
  • Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt.
  • Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt.

Alle möglichen Ängste sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen:

Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und Zugehörigkeit; und andererseits als Streben nach Dauer und Sicherheit mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Und doch, wenn wir noch einmal auf unser kosmisches Gleichnis zurückgreifen, scheint eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein, wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist.

Wir werden sehen, wie das Überwertigwerden einer der vier Grundängste – oder, von der anderen Seite her gesehen, das weitgehende Aufgeben eines der vier Grundimpulse – uns zu vier Persönlichkeitsstrukturen führt, zu vier Arten des In-der- Welt-Seins, die wir in Abstufungen alle kennen und an denen wir alle mehr oder weniger akzentuiert Anteil haben. Die vier Persönlichkeitsstrukturen sind zunächst Normalstrukturen mit gewissen Akzentuierungen. Wird indessen die Akzentuierung zu ausgesprochener Einseitigkeit, erreicht sie Grenzwerte, die als Zerrform oder Extremvarianten der vier normalen Grundstrukturen zu verstehen sind. Wir stossen damit auf die neurotischen Varianten der Strukturtypen, wie sie die Psychotherapie und Tiefenpsychologie in den vier grossen Neuroseformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie beschrieben hat.

Schizoide Persönlichkeit

Wir wenden uns den Persönlichkeiten zu, deren grundlegendes Problem – von der Seite der Angst her gesehen – die Angst vor der Hingabe ist und die zugleich – von der Seite der Grundimpulse her betrachtet - den Impuls zur „Eigendrehung“, das hiesse psychologisch also: zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung, überwertig leben. Das Vermeiden jeder vertrauten Nähe aus Angst vor dem Du, vor sich öffnender Hingabe, lässt den schizoiden Menschen mehr und mehr isoliert uns einsam werden.

Voller Misstrauen und aus ihrer tiefen Ungeborgenheit heraus, die sowohl primäre Ursache als sekundär auch Folge ihres lockeren mitmenschlichen Kontaktes ist, entwickeln schizoide Menschen zur Sicherung besonders stark die Funktionen und Fähigkeiten, die ihnen zu einer besseren Orientierung in der Welt verhelfen: die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane, den erkennden Intellekt, das Bewusstsein, die Ratio. Da sie besonders alles Emotionale, Gefühlshafte verunsichert, streben sie die von Gefühlen abgelöste „reine“ Erkenntnis an, die ihnen Resultate zu liefern verspricht, auf die sie sich verlassen können. Gegenüber der Entwicklung dieser rationalen Seiten bleibt die des Gefühlslebens zurück; denn dafür ist man auf ein Du, auf einen Partner angewiesen, auf emotionale Bezogenheit und auf Gefühlsaustausch.

So ist es für diese Menschen charakteristisch, dass sie, bei oft überdurchschnittlicher Intelligenzentwicklung, im Emotionalen zurückgeblieben wirken; das Gefühlshafte bleibt bei ihnen oft unterentwickelt verkümmert.

Der schizoide Mensch und die Liebe

Da bei ihm jede Nähe Angst auslöst, muss er sich um so mehr zurücknehmen, je näher er jemandem kommt, je mehr er vor allem in die Gefahr des Liebens oder des Geliebtwerdens kommt, das er sich nur als ein Sichausliefern und Abhängigwerden vorstellen kann. Die Lösungsversuche des Konfliktes zwischen dem drängenden Begehren und der Angst vor mitmenschlicher Nähe können verschieden aussehen. Häufig so, dass er sich nur auf unverbindliche, leicht zu lösende, oder auf rein sexuelle Beziehungen einlässt, in denen er die Sexualität von seinem Gefühlserleben gleichsam abspaltet. Der schizoide Mensch hat es am schwersten seine Liebesfähigkeit zu entwickeln. Er ist ungemein empfindlich gegen alles was seine Freiheit und Unabhängigkeit einzuschränken droht; er ist in der Gefühlsäusserung karg und am dankbarsten, wenn ihm der Partner eine unaufdringliche Zuneigung, ein Stück Heimat und Geborgenheit gibt.

Der schizoide Mensch und die Aggression

Seine mitmenschliche Ungeborgenheit und Bindungslosigkeit, sowie das aus ihnen resultierende Misstrauen, lassen den schizoiden Menschen die Annäherung eines anderen als Bedrohung erleben, die er zuerst mit Angst, der sofort die Aggression folgt, beantwortet. Es ist für den Umgang mit schizoiden Menschen wichtig, zu wissen, dass bei ihnen Aggressionen auch diese Bedeutung einer Werbung haben können. Aggressivität fällt ihnen leichter als das Äussern von Zuneigung und anderen positiven Gefühlen.

Der lebensgeschichtliche Hintergrund von schizoiden Menschen

Wie kann es zu schizoiden Persönlichkeitsentwicklungen kommen, zu jener überwertigen Angst vor der Hingabe und, entsprechend, zu dem überwertigen Betonen der „Eigendrehung“, der Selbstbewahrung?

Konstitutionell entgegenkommend ist dafür einmal eine zartsensible Anlage, eine grosse seelische Empfindsamkeit, Labilität und Verwundbarkeit. Als Selbstschutz legt man dann eine Distanz zwischen sich und die Umwelt, weil man zu grosse physische und psychische Nähe wegen der radarähnlich fein reagierenden Sensibilität und gleichsam Durchlässigkeit als zu „laut“ empfindet.

Die andere Möglichkeit ist die, dass eine besonders intensive motorisch-expansive, aggressiv-triebhafte Anlage vorliegt, eine geringe Bindungsneigung oder –fähigkeit, Anlagen, durch die man von früh an leichter als lästig oder störend empfunden wird.

Nicht eigentlich zur Konstitution im eben verwendeten engeren Sinne zu rechnen, aber doch im Körperlichen liegend, zugleich aber bereits deutlicher auf die Umwelt als auslösenden Faktor weisend, wären körperliche oder sonstige Wesensmerkmale zu nennen, durch die ein Kind von Anfang an die Erwartungen und Wunschvorstellungen seiner Eltern, vor allem der Mutter, enttäuscht.

Umweltfaktoren als wesentliche Auslöser schizoider Persönlichkeitsentwicklungen kommen hinzu. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist das Kind nach der Geburt in einer sehr lange währenden extremen Hilflosigkeit und völligen Abhängigkeit von seiner Umgebung. Damit sich das Kind allmählich vertrauend der Umwelt zuwenden und die erste Du-Findung vollziehen kann, muss ihm diese Umwelt annehmbar und vetrauenerweckend erscheinen. Es braucht eine Atmosphäre von Geborgenheit, es braucht Zuwendung und emotionale Wärme, einen stabilen Lebensraum, es muss sich Aufgehoben-, Behaglich fühlen weil es erst aus solchem Urvertrauen allmählich wagen kann, die Hingabe an das Leben zu riskieren und zwar ohne die Angst vernichtet zu werden.

Erfährt das Kind dagegen in dieser Frühzeit die Welt als unheimlich und unzuverlässlig, als leer, oder aber als überrennend und überschwemmend, wird es sich von ihr zurücknehmen, abgeschreckt werden. Anstatt sich vertrauend der Welt zuzuwenden, wird es ein ganz frühes und tiefes Misstrauen erwerben. Sowohl die Leere der Welt, die das Kind erlebt, wenn es zu oft und zu lange allein gelassen wird, als auch ein Übermass an Reizen und wechselnden Eindrücken oder eine zu grosse Intensität der Reize wirken schizoidisierend auf es, es wird dann bereits im ersten Ansatz seiner Weltzuwendung gestört und gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen.

Besonders leicht kommt es zu solchen frühen schizoisierenden Schädigungen auch bei den von Anfang an ungeliebten oder unerwünschten Kindern; weiter bei solchen, die frühen Trennungen etwa durch längeren Klinikaufenthalt wegen Erkrankungen oder dem Verlust der Mutter ausgesetzt waren. Gleiches gilt bei lieblosen oder zu gleichgültigen Müttern, bei zu jungen Müttern, die für die Mutterschaft noch nicht reif waren, gilt auch für die „goldene Käfig Kinder“, die oft lieblosem oder gleichgültigem Personal überlassen werden, weil die Mutter keine Zeit für sie hat; auch die Mütter die nach der Geburt zu früh wieder arbeiten und das Kind zu lange sich selbst überlassen müssen, können ihm nicht das geben, was es hier braucht.

Von hier aus gesehen bekommt es auch eine besondere Bedeutung, ob ein Kind an der Brust oder mit der Flasche gestillt wird. Die regelmässige Wiederkehr der Mutter und die beide beglückende Innigkeit beim Bruststillen ermöglicht dem Kinde nicht nur das allmähliche Wiedererkennen der Person, von der ihm so verlässlich alle Bedürfnisbefriedigung kommt, sondern lässt in ihm auch die ersten Ansätze von auf einen Menschen gerichtete Hoffnung, von Dankbarkeit und Liebe entstehen.

Die Folge aller beschriebenen Störungen ist jedenfalls, dass das Kind sich von Beginn an gegen die Welt wehren und vor ihr schützen muss, oder von ihr enttäuscht wird. Wenn es draussen keinen adäquaten Partner findet, greift es auf sich selber zurück, nimmt sich selbst zum Partner, und vollzieht den Schritt von sich weg auf das Du hin unzureichend. In der Weiterentwicklung und wenn es später keine korrigierende Erfahrungen machen kann, entstehen daraus die oben beschriebenen Lücken, die Neigung zur Unabhängigkeit und die Egozentrizität, die Selbstbezogenheit.

Auch die gesamte Umweltsituation des westlichen Menschen wirkt sich schizoidisierend aus: die Welt gibt uns immer weniger Geborgenheit, trotz allem Komfort fühlen wir uns immer gefährdeter, und unser Lebensgefühl wird labilisiert durch die Überfülle an Reizen, denen wir ausgesetzt sind und gegen die wir uns nur schwer abschirmen können.

Eine Biographie enthält manches Typische in bezug auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund schizoider Persönlichkeitsentwicklungen: zu grosse Ferne, Gleichgültigkeit und unregelmässige Verfügbarkeit der Bezugspersonen von Beginn an; dazu Mangel an körpernaher Zärtlichkeit und Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Ferner der Ausfall an Führung und Alleingelassenwerden bei wichtigen Entwicklungsschritten; zu wenig Kontakt und gemeinsames Erleben mit Gleichaltrigen, zu wenig Zugehörigkeit zu Gruppen, zu einer Gemeinschaft. Ungenügende Entwicklungsmöglichkeiten für die Gefühlsseite, für das Vertrauenkönnen.

Ergänzende Betrachtungen

Beim schizoiden, „gespaltenen“ Menschen ist der ganzheitliche Erlebniszusammenhang seiner seelischen Eindrücke, Antriebe und Reaktionen in verschieden hohem Masse zerrissen; vor allem seine Vitalimpulse sind isoliert, vom Gefühlserleben abgespalten. Vor allem zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Rationalität und Emotionalität, besteht ein grosser Unterschied des Reifegrades. Weil er sich von früh an durch den Verstand und die Sinneswahrnehmungen orientieren musste, da er keine ausreichende emotionale Orientierung lernen konnte, stehen ihm keine Gefühlsnuancen zur Verfügung; er kennt vorwiegend die primitiven Vorformen des Gefühls, die Affekte; es ist, als ob auf der Palette seiner Ausdrucksmöglichkeiten die Mitteltöne fehlten.

Als Schutz gegen seine Angst vor der Nähe versucht der schizoide Mensch, die grösstmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Mit solcher Neigung zur Autarkie und mit dem Ausweichen vor Nahkontakten ist aber ein Kreisen um sich selbst, eine zunehmende Egozentrizität unvermeidbar verbunden, die ihn mehr und mehr in die Isolierung treibt. Wenn man so fast alles, was man draussen wahrnimmt, in Beziehung zu sich setzt - was jemandem anderen mit mehr Kontakt und lebendigerer Beziehung zur mitmenschlichen Umwelt gar nicht in den Sinn käme - unterliegt man mehr und mehr einem Beziehungs- und Bedeutungswahn, der bis zum eigentlichen Wahnsystem ausgebaut werden kann und dann nicht mehr zu korrigieren ist.

Ist mann so labil und ungeschützt der Welt innen und aussen ausgesetzt, kann man verstehen, dass schizoide Menschen eine Lebenstechnik zu entwickeln vesuchen, durch die sie nichts mehr wirklich an sich heranlassen, die es ihnen ermöglicht, unberührt und ungerührt zu bleiben, immer sachlich, distanziert und möglichst überlegen, durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber auch durch nichts mehr wirklich zu erreichen. Das kann alle Grade von kühler Distanz, Arroganz, Unnahbarkeit bis zu Eiseskälte und Gefühllosigkeit annehmen, oder, wenn diese Schutzhaltungen nicht mehr ausreichen, zu plötzlichen Schärfen und explosivenAggressionen führen. Geniale Menschen entwickeln sich manchmal auf solchem Hintergrund, im Annehmen des Gefühls totalen In-Frage-Gestellt-Seins, womit wir die oft schmale Grenze zwischen Genialität und Psychose angedeutet haben.

Es sei noch betont, dass schizoide Züge sehr verschiedene Intensität annehmen können. Wenn man versucht, eine Reihe schizoider Persönlichkeiten aufzustellen, die von durchaus noch gesund zu nennenden, über leichter und schwerer Gestörte bis zu den schwerst Gestörten führt, kämen wir etwa auf die folgende:

  • Leicht Kontaktgehemmte, Übersensible, Einzelgänger, Originale, Eigenbrötler, Käuze, Sonderlinge, Aussenseiter, Asoziale, Kriminelle, Psychotiker.

Im allgemeinen kann man sagen, dass schizoide Menschen leichter als andere zu altern verstehen; dank ihrer ihnen schon gewohnten Unabhängigkeit und Isolierung ertragen sie die Vereinsamung besser. Sie fürchten auch den Tod weniger, nehmen ihn als Faktum unsentimental und stoisch hin. Da sie nicht so viel in die Welt und in die Menschen investiert haben, haben sie auch weniger zu verlieren und aufzugeben; sie hängen an nichts besonders stark, nicht einmal an sich selbst, und können daher leichter loslassen.

Depressive Persönlichkeiten

Wir wenden uns der zweiten Grundform der Angst zu, der Angst, ein eigenständiges Ich zu werden, die zutiefst erlebt wird als das Herausfallen aus der Geborgenheit. Von den Grundimpulsen her gesehen handelt es sich dabei nach unserem Gleichnis um die Menschen, die die Revolution, also die Bewegung um ein grösseres Zentrum, überwertig leben und die „Eigendrehung“ vermeiden wollen, wir bezeichneten damit die Seite der Hingabe im weitesten Sinn.

Der Wunsch nach vertrautem Nahkontakt, die Sehnsucht, lieben zu können und geliebt zu werden, gehört zu unserem Wesen und ist eines der Merkmale der Menschlichkeit überhaupt. Das Urbild solcher Liebe ist die Mutter-Kind-Beziehung, und vielleicht sucht alle Liebe das wieder herzustellen, wieder zu finden, was wir in der frühesten Kindheit erlebten: bedingungslos uns geliebt zu fühlen, einfach als die wir sind, und zu erfahren, dass unser Dasein, das, was wir zu geben haben, was wir sind, den anderen ebenso beglückt. Wir bringen die Liebesfähigkeit als eine unserer Anlagen mit, aber sie muss angesprochen, geweckt werden, um sich entfalten zu können.

Wie wird es aussehen, wenn ein Mensch, die Ich-Werdung vermeidend, überwiegend die Ich-Aufgabe und Hingabe zu leben versucht. Die erste Folge wird sein, dass dadurch das DU, der jeweilige Partner, einen Überwert bekommt. Liebendes Sich-hingeben-Wollen bedarf eines Partners, ist gebunden an das Da-Sein eines anderen Menschen und ohne ihn nicht möglich.

Damit ist bereits eine Abhängigkeit gesetzt, und hier liegt das zentrale Problem der Menschen, die wir als die depressiven bezeichnen wollen: Sie sind mehr als andere auf einen Partner angewiesen. Sei es durch ihre Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft sei es durch ihr Bedürfnis nach Geliebtwerden – zwei Seiten, die sich Erich Fromms Worten aus seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ in die beiden Sätze zusammenfassen lassen: „Ich brauche dich, weil ich dich liebe“ und „Ich liebe dich, weil ich dich brauche“. Bei den depressiven Persönlichkeiten ist die Verlustangst die dominierende, in ihren verschiedenen Ausformungen als Angst vor isolierender Distanz, vor Trennung, Ungeborgenheit, Einsamkeit dem Verlassenwerden.

In der Sprache unseres Gleichnisses:

Der Depressive versucht seiner Angst dadurch zu entgegnen, dass er die „Eigendrehung“ aufgibt oder sie dem anderen nicht zugesteht.

Depressive Menschen suchen daher die Abhängigkeit, die ihnen Sicherheit zu geben verspricht; mit der Abhängigkeit steigert sich aber die Verlustangst; daher wollen sie so dicht wie möglich am anderen haften, reagieren deshalb schon bei kurzen Trennungen mit Panik. Wenn der schizoide Mensch sich vor vertrauender Nähe unter anderem dadurch schützte, dass er an der Meinung festhielt, die Menschen seien gefährlich und nicht vertrauenswürdig, um damit seiner Angst vor der Hingabe auszuweichen, neigt der Depressive auch hierin zum Gegenteil: Er idealisiert die Menschen eher, vor allem die ihm nahestehenden, verharmlost sie, entschuldigt ihre Schwächen oder übersieht ihre dunklen Seiten. Die Konflikte Depressiver drücken sich körperlich bevorzugt in Störungen des Aufnahmetraktes aus, der ja symbolisch repräsentativ für alles sich Nehmen, Einverleiben, Zugreifen und Fordern steht. Es kommt bei ihnen in Konfliktsituationen psychosomatisch leicht zu Affektionen des Schlundes, der Rachenmandeln, der Speiseröhre und des Magens. Auch Fettsucht und Magersucht können psychodynamisch mit solchen Konflikten zusammenhängen.

Der depressive Mensch und die Liebe

Liebe, Liebenwollen und Geliebtwerdenwollen ist dem depressiven Menschen das Wichtigste im Leben.

Im gesunden Menschen mit depressiven Einschlägen liegt eine grosse Liebesfähigkeit, Hingabe- und Opferbereitschaft, die Fähigkeit auch Schweres mit dem Partner durchzutragen; er kann Geborgenheit geben, Gefühlsinnigkeit und Unbedingtheit der Zuwendung. Beim tiefer gestörten Depressiven überwiegt in der Liebesbeziehung die Verlustangst; bei ihm kommt es dadurch zu den schwierigeren, den eigentlich depressiven Partnerbeziehungen.

  • Man versucht, gleichsam nur noch durch den Partner zu leben, in völliger Identifikation mit ihm. Das ermöglicht tatsächlich die grösste Nähe. Die Echtheit oder Unechtheit solcher Liebe unterscheidet sich darin, ob man vor der Eigendrehung und der zu ihr gehörenden Verlustangst ausweichen will oder ob man trotz des Bewusstseins der Gefährdetheit alles Liebens sich selbst und den anderen für die Eigenentwicklung freigeben kann und ihn trotzdem zu lieben wagt.
  • In ähnlicher Richtung liegt es, wenn man aus Verlustangst sich selbst so weit aufgibt, dass man praktisch wieder zum Kind wird. Man delegiert dann alles an den Partner, was man eigentlich selbst tun könnte und sollte, wird damit immer abhängiger von ihm und hilfloser ohne ihn, man glaubt ihn durch die eigene Hilfsbedürftigkeit am sichersten halten zu können.

Je tiefer wir lieben, um so mehr haben wir zu verlieren, und bei der Gefährdetheit menschlichen Lebens suchen wir alle nach einem Stück Geborgenheit, die wir am tiefsten in der Liebe zu finden hoffen.

Zum Partner-Sein gehört eine schöpferische Distanz, die es beiden Partnern ermöglicht, sie selbst zu sein, sich zu sich selbst zu entwickeln. Wirkliche Partnerschaft ist nur möglich zwischen zwei eigenständigen Individuen, nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis des einen vom anderen, wobei der eine zum Objekt gemacht würde.

Der lebensgeschichtliche Hintergrund depressiver Menschen

Konstitutionell entgegenkommend kann eine betont gemüthaft, gefühlswarme Anlage sein, Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit, sowie eine grosse Einfühlungsgabe. Zugleich tritt bei diesen Menschen – ebenfalls anlagemässig – meist das aggressive Durchsetzungsvermögen zurück, sie haben zu wenig „Ellenbogen“, sind von Natur friedfertig, gutartig und wenig kämpferisch. Wahrscheinlich kann auch eine angeborene Neigung zum Phlegma und zur Bequemlichkeit zu den anlagemässig begünstigenden Faktoren gerechnet werden – obwohl auch hierbei die Frage, was Anlage, was reaktive Antwort ist, schwer beantwortet werden kann.

Durch die lange Dauer der totalen Abhängigkeit des Kindes von der Mutter, prägt sich ihr Bild tief in seine Seele ein. So wird die Mutter „ver-innerlicht“, wird zu einem ungemein wichtigen Seelenbestandteil des Kindes. Wie es die Mutter in ihrer Einstellung zu sich erlebt hat, das ergibt die Grundlagen dafür, wie es auch später im Tiefsten zu sich selbst steht. Das innen sich abbildende, wie die Psychoanalyse sagt „introjizierte“ oder „inkorporierte“ Mutter-Bild, die individuelle Muttererfahrung, spiegelt sich später in unserer Einstellung zu uns selbst. Wer das Glück hatte, eine liebende Mutter zu sich einbilden zu können, hält sich zutiefst für liebenswert; wer das Unglück hatte, eine harte und ablehnende Mutter in sich abbilden zu müssen, hält sich zutiefst für nicht liebenswert, und er wird lange Zeit und viel neue Erfahrungen brauchen, um glauben zu können, dass auch er liebenswert ist. So liegen in einer geglückten Muttererfahrung ein Kapital, das man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

Fragen wir uns nun, worin die Störungsmöglichkeiten in dieser Phase liegen, durch die der Impuls zur „Eigendrehung“ statt mit Freude mit Angst und Schuldgefühlen erlebt wird. Es gibt dafür zwei charakteristische Fehlhaltungen der Mütter, die wir mit Verwöhnung und Versagung bezeichnen können.

  • Zunächst zur Verwöhnung. Hier finden wir vor allem die ausgesprochenen Kleinkindmütter, die „Gluckenmütter“, denen es am liebsten wäre, wenn das Kind immen ein Baby bliebe, hilflos und abhängig, sie brauchend und auf sie angewiesen. Mütter also, die oft selbst zum depressiven Strukturkreis gehören und aus unbewusster Verlustangst und Lebensängstlichkeit oder aus Angst vor Liebesverlust das Kind verwöhnen. Sie überschütten es mit Zärtlichkeit, wagen ihm nichts zuzumuten an gesundem und notwendigem Verzichten.

Es gibt kaum etwas Belastenderes für ein Kind als eine „Erziehung“ durch Schuldgefühlserweckung; es ist eine der grossen Sünden, die der Erwachsene später seinen Eltern schwer verzeihen kann, wenn er je soweit kommt, sich davon zu distanzieren und das unnötige Leiden zu erkennen, das ihm aus vermeintlicher Liebe zugefügt wurde. Dafür ein im Typischen gar nicht so seltenes Beispiel: Wenn das Kind in den Augen seiner Mutter ungezogen war, was meist nur hiess, dass es nicht sofort gehorchte, oder etwas tat was ihr nicht passte, legte sie sich auf das Sofa und „starb“ – das heisst, sie rührte sich längere Zeit nicht und reagierte auf die Bitten des Kindes nicht, bis es in verzweifeltes Weinen ausbrach.... Oder Äusserungen wie „Ich gehe und komme nicht wieder“ oder „Du bringst mich noch ins Grab“...

  • Wir wollen nun die Seite der Versagung betrachten, die den anderen biographischen Hintergrund depressiver Persönlichkeitsentwicklungen betrachtet. Die hier gemeinten kargen, wenig mütterlich-liebesfähigen, oft harten Frauen sind meist in ihrer eigenen Kindheit liebesmässig zu kurz gekommen und haben aus eigener Erfahrung kein Vorbild für das Mutter-Sein, wissen zu wenig über die Bedürfnisse des Kindes Bescheid.

Im Endeffekt ist die Auswirkung von Verwöhnung und Versagung eine ähnliche: Beide führen meist zur Entwicklung einer depressiven Persönlichkeitsstruktur. Das verwöhnte Kind kommt nur meist erst später in Angst und Krisen, wenn nämlich das Leben nicht mehr so verwöhnend ist wie einst die Mutter und wenn keine Ersatzmütter - zu denen eine Versorgungsehe, staatliche Institutionen, Sozialversicherungen etc. gehören können – gefunden werden. Dann stellt sich heraus, dass man den Härten und Anforderungen des Lebens nicht gewachsen ist, und es kommt zum Ausbruch der Depression. Häufig wird dann auch der Ausweg in irgendeine Sucht gesucht.

Das unter Mangelerlebnissen und Versagung aufgewachsene Kind lernt es früher, zu früh, zu verzichten. Es wird zum stillen, anspruchlosen Kind, das schüchtern und angepasst, für die Eltern sehr bequem ist, die hinter diesen Verhaltensweisen die Depression nicht erkennen. Es ist so daran gewohnt, sich zurückzustellen, keine Ansprüche zu haben, dass es auch später immer auf andere ausgerichtet ist und deren Forderungen und Erwartungen zu erfüllen bemüht ist. Es hat der Welt zu wenig an Eigen-Sein entgegenzustellen, ist zu wenig Subjekt und wird so zum Objekt anderer. Da es ihm immer unmöglicher wird, alle die vermeintlichen Forderungen zu erfüllen, weil es schlieslich alles als Forderung erlebt, die es meint erfüllen zu müssen, gerät es in immer neue Schuldgefühle und diesen folgend Depressionen.

Ergänzende Betrachtungen

Auch für die depressive Persönlichkeitsstruktur gibt es eine Linie von Menschen mit durchaus noch völlig gesund zu nennenden depressiven Einschlägen über leichtere bis zu den schweren und schwersten depressiven Persönlichkeiten; wir können sie folgendermassen skizzieren:

  • Kontemplation, Beschaulichkeit - stille Introvertierte – Bescheidenheit, Schüchternheit – Gehemmtheit im Fordern und Sich-Behaupten – Bequemlichkeit, rezeptive Passivität – passive Erwartungshaltungen (Schlaraffenerwartungen an das Leben) – Hoffnungslosigkeit - Depression – Melancholie.

Nicht selten steht am Ende dieser Linie der Selbstmord oder die völlige Apathie und Indolenz, oder es wird in eine Sucht ausgewichen, die aber nur vorübergehend das Ich stärkt, die Depression aufhebt.

Zwanghafte Persönlichkeiten

Die Sehnsucht nach Dauer ist eine sehr frühe und tiefe in uns. Wie wir gesehen haben, ist die verlässliche Wiederkehr des Gewohnten und Vertrauten in unserer Kindheit ungemein wichtig für unsere Entwicklung. Sie ermöglicht uns erst die Entfaltung spezifisch menschlicher Eigenschaften, unserer Gefühls- und Gemütsseite und unserer Liebesfähigkeit, lässt uns Vertrauen und Hoffen lernen. Wir sahen beim schizoiden Menschen, wie bei häufigem Wechsel der Bezugspersonen oder beim weitgehenden Ausfall einer festen Bezugsperson in der Frühstzeit diese Seiten unterentwickelt bleiben oder verkümmern.

Welche Folgen wird es haben, wenn ein Mensch die Angst vor der Vergänglichkeit überwertig erlebt oder, von der Impulsseite her gesehen, überwertig das Streben nach Dauer und Sicherheit zu leben versucht - in der Sprache unserers Gleichnisses also das Zentripetale, das der Schwerkraft entspricht, einseitig betont. Die allgemeinste Folge wird sein, dass er die Neigung hat, alles beim Alten zu belassen.

Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherungsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewusste Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit. Alles, was zu Ende geht, erinnert an die Vergänglichkeit, letztlich an den Tod.

Wir alle haben diese Angst in uns und den Wunsch nach Dauer und Unsterblichkeit, wir alle suchen nach etwas, das unendlich ist, und empfinden eine tiefe Befriedigung, wenn wir bestimmte Dinge so wiederfinden, wie wir es gewohnt sind, wie wir sie verlassen haben.

Der zwanghafte Mensch kann es schwer annehmen, dass es im Bereich des Lebendigen keine Absolutheit, keine unveränderlichen Prinzipien gibt, dass Lebendiges nicht völlig vorausberechenbar festgelegt werden kann. Er glaubt, alles in ein System einfangen zu können um es lückenlos übersehen und beherrschen zu können, und vergewaltigt so das Natürliche.

Es ist ein seelisches Gesetz, dass alles, was wir verdrängen, sich aufstaut, dadurch steigert sich der Innendruck und der Zwanghafte braucht daher immer mehr Zeit und Kräfte, um das Verdrängte in Schach zu halten; so entsteht der zwanghafte Teufelskreis, der nur dadurch zu lösen ist, dass man die „andere Seite“, das Verdrängte annimmt und sich mit ihr auseinandersetzt.

Nimmt man alles so prinzipiell, wird lebendige Ordnung zu pedantischer Ordentlichkeit, notwendige Konsequenz zu unbelehrbarer Starrheit, vernünftige Ökonomie zu Geiz, gesunder Eigenwille zu trotzigem Eigensinn bis zur Despotie. Reicht das alles noch nicht aus um die Angst zu bewältigen, weil die Fülle des Lebens sich nicht in starre Regeln einfangen lässt, kommt es zur Entwicklung von Zwangssymptomen und Zwangshandlungen. Sie haben ursprünglich die Funktion, Angst zu binden verselbständigen sich aber allmählich und werden zu einem inneren Müssen. „Es“ zwingt sie dem Menschen auf, und selbst wenn sie ihm sinnlos erscheinen, kann er sie nicht mehr unterlassen. Wasch-, Grübel-, Zähl- und Erinnerungszwang sind solche Zwangshandlungen. Immer, wenn man einen Zwang zu unterlassen oder aufzulösen versucht, werden die darin gebundenen Ängste frei.

Der zwanghafte Mensch und die Liebe

Die Liebe, dieses irrationale, grenzüberwindende, transzendierende Gefühlserleben, das sich zu gefährlicher Leidenschaft steigern kann, ist diesen Menschen an sich schon zutiefst beunruhigend. Hier ist offenbar etwas, das man nicht machen kann, das seine eigenen Gesetze zu haben scheint, das sich dem Willen entzieht, das einen überfallen kann wie eine Krankheit und womöglich dazu bringt, wider die Vernunft zu handeln. All das ist schwer mit den Sicherungstendenzen und dem Machtwillen zwanghafter Menschen zu vereinen.

Die Einstellung zur Sexualität wie zu allen Lebensfreuden und Genussmöglichkeiten wird mit zunehmend zwanghaften Seiten immer problematischer. Es wurde schon angedeutet, dass auch die Sexualität oft „eingeplant“ wird. Dadurch bekommt das ganze Liebesleben etwas Erosfeindliches und atmosphärisch Ernüchterndes, völlig Undionysisches.

Häufig trägt der zwanghafte Mensch seinen Leistungswillen auch in die Sexualität; die sexuelle Beziehung wird dann für ihn zur Bewährung seines Leistungsvermögens, seiner Potenz, die Partnerin damit zum Objekt seiner Leistungsprüfung. Die erotisch-sexuelle Liebesbeziehung ist bei ihnen leicht störbar, oft abhängig von bestimmten Bedingungen, die erfüllt sein müssen: Geräusche, Gerüche, die Lichverhältnisse, ungenügend verschlossene Türen und andere äussere Umstände können sie so stören, dass ihnen die Lust vergeht oder sie nicht potent sind. Manche von ihnen brauchen lange Waschvorbereitungen und nehmen damit schon im voraus dem intimen Zusammensein alles Erregende; oder sie entziehen sich ihm durch regelmässig vorher noch zu erledigende „Pflichten“- irgendetwas muss erst noch aufgeräumt, zu Ende gebracht werden.

Häufig findet man auch bei ihnen eine scharfe Trennung von Liebe und Sexualität, von Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, derart, dass sie da, wo sie lieben, nicht begehren können, anderseits nur dort begehren können, wo sie nicht lieben, denn sie können ja die ihnen als schmutzig erscheinende Sexualität nicht einer Frau zumuten, die sie lieben – das würde diese herabwürdigen.

Der lebensgeschichtliche Hintergrund

Welche konstitutionelle Faktoren und welche Umwelteinflüsse begünstigen die Entwicklung zwanghafter Persönlichkeitsstrukturen?

Konstitutionell scheint eine besonders lebhafte motorisch-aggressive, sexuelle und allgemein expansive Veranlagung dabei eine Rolle zu spielen, auch anlagemässig betont eigenwillige, eigenständige Charaktere. Anlagen also, mit denen ein Kind durchschnittlich leichter und öfter „aneckt“, von den Eltern als unbequem empfunden und daher in seinem Verhalten häufiger gebremst, gedrosselt wird, als ein vergleichsweise stilleres, „braveres“ Kind. Aber auch anlagemässige Sanftheit und Anpassungsbereitschaft mit der Neigung zur Nachgiebigkeit und Fügsamkeit kann eine Rolle spielen, weil sich das Kind dann selbst zu wenig spontane Reaktionen erlaubt und sich mehr anpasst, als ihm bekommt. Ferner scheint eine angeborene Neigung zum Nach-denken, zu gründlich-grüblerischer Genauigkeit, sowie ein stärkeres gefühlsmässiges Haften an der Vergangenheit in Betracht zu kommen.

Die ersten wichtigen und bestimmten Verhaltensweisen bereits tief einspurenden Möglichkeiten für Erlebnisse seines Eigenwillens oder aber des Gehorchenmüssens bietet die Sauberkeitserziehung. Hier kann bereits der Grund gelegt werden sowohl für eine gesunde Selbstbestimmung des Kindes als auch für Trotzhaltungen oder aber für nachgiebige Gefügigkeit.

Bei den später zwanghaften Persönlichkeiten finden wir in ihrer Lebensgeschichte mit grosser Regelmässigkeit, dass in ihrer Kindheit altersmässig zu früh und zu starr die lebendigen, aggressiven, affektiven, die gestalten und verändern wollenden Impulse, ja oft jede Spontaneität, jede Äusserung gesunden Eigenwillens gedrosselt, gehemmt, bestraft oder unterdrückt wurden.

Der zwanghafte Mensch hat also in seiner Kindheit zu früh die Erfahrung gemacht, dass in der Welt vieles nur in einer ganz betimmten Weise getan werden darf und dass vieles verboten war, was es gern getan hätte. So entstand in ihm auch die Vorstellung, dass es offenbar immer so etwas wie das absolut Richitge geben müsse, woraus sich sein Hang zum Perfektionisten entwickelt. Diesen Perfektionismus erhebt es zum Prinzip, er möchte allem Lebendigen Bedingungen stellen, wie es seiner Meinung nach sein sollte, „weil“ – wie Morgenstern seinen Palmström sagen lässt – „nicht sein kann was nicht sein darf“.

Aber auch ein Kind das in einem chaotischen Milieu aufwächst, kann zwanghafte Züge entwickeln, hier aber reaktiv und kompensatorisch: Es findet in seiner Umwelt keine Orientierungsmöglichkeit, keinen Halt, erlebt eine Freiheit die es ängstigt, weil darin alle Möglichkeiten der Willkür enthalten sind. Es sucht dann nach einem inneren Halt, weil es draussen keinen findet. Es wird versuchen, aus sich heraus Ordnungen und feste Grundsätze zu entwickeln, an die es sich halten kann und die ihm Sicherheit geben. Diese nehmen dann zwanghafte Formen an, weil sie durch seine Umgebung immer wieder gefährdet werden, daher umso mehr an ihnen festgehalten werden muss.

Ergänzende Betrachtungen

In gewissem Sinne kann man sagen, dass Gewohnheiten schon Ansätze zu Zwängen sind. Erst wenn man nicht mehr anders kann, als bestimmte Dinge nur in bestimmter Form zu tun, auch wenn es sinnlos ist, können wir von zwängen sprechen. Zu starre Erziehungsmethoden, zu autoritäre und prinzipielle Haltungen der Eltern und Erzieher, können zum Auslöser zwanghafter Entwicklungen werden, vor allem, wenn sie zu früh an das Kind herangetragen werden. Das Vermeidenmüssen aller unerwünschten Verhaltensweisen von früh an bahnt den Weg zum Perfektionismus, zu Unduldsamkeit gegen sich und andere, in der Steigerung zu diktatorischen und dogmatischen Zügen.

Im Alltag kann die Linie vom Noch-einmal-nachsehen-Müssen, ob der Gashahn wirklich zugedreht, die Wohnungstür wirklich verschlossen wurde beim Weggehen, zu immer schwereren und zeitraubenderen Zwängen führen.

Wenn jemand auf einer fremden Toilette den Sitzring mit Toilettenpapier auslegt, beim Verlassen die Türklinke mit dem Ellenbogen niederdrückt und das mit der Infektionsgefahr begründet, ist das schon reichlich übertrieben; aber das kann sich zu einer Infektionsangst ausweiten, die überall Bakterien wittert und den Lebensraum immer mehr einschränkt.

Die Hilfe kann nur liegen im Bewusstmachen der eigentlichen Hintergründe der Zwänge und im Zulassen und Integrieren der gefürchteten und deshalb gemiedenen, lebendigen Impulse. Meistens handelt es sich bei diesen um aggressive, affektive und sexuelle Impulse.

Man kann verstehen, dass die sichernden Haltungen gegen die Vergänglichkeit sich bei zwanghaften Persönlichkeiten vor allem auf den Umgang mit der Zeit und dem Geld erstrecken. Hier spüren wir die Vergänglichkeit und zugleich die Möglichkeit am stärksten, die Illusion der Dauer und Sicherheit in unserer Macht zu haben: Wie ich mit meiner Zeit und mit meinem Geld umgehe, hängt nur von meinem Willen ab.

Bei zwanghaften Persönlichkeiten kommt es am ehesten zu Krisen, wenn ihre starr festgehaltenen Prinzipien, Meinungen, Theorien etc. mit neuen Entwicklungen zusammenstossen, mit neuen Erkenntnissen und Fortschritten, die ihre bisherige Orientierung bedrohen und sie zum Aufgeben ihres Systems zwingen, oder wenn ihre Sicherheit und ihr Besitz bedroht erscheinen.

Zwanghafte Menschen haben meist Interesse für alles Geschichtliche, auch die Geschichte der Kunst, der Medizin, der Philosophie etc. was schon vergangen ist, kann nicht mehr vergehen, und so hat die Beschäftigung damit etwas Zeitloses.

Versuchen wir wieder eine Linie zu skizzieren, die vom gesunden Menschen mit zwanghaften Strukturanteilen über stärker Zwanghafte bis zu den eigentlichen Zwangskranken führt, lassen sich zwei Möglichkeiten erkennen:

  • Bei den anlagemässig vitalstarken Persönlichkeiten führt die Linie von sachlichen, pflichttreuen, verlässlichen Menschen über zunehmende Nüchternheit zum ehrgeizigen Streber, zum unbelehrbar Eigensinnigen und Querulanten, zum tyrannischen Machtmenschen, Despoten und Autokraten, bis zum Zwangskranken verschiedenen Grades; am Ende der Linie stände das Krankheitsbild der psychotischen Katatonie.
  • Für die Vitalschwächeren sähe die Linie etwa so aus:

Unauffällig Angepasste, vorwiegend sich sichernde Lebensängstliche, Zweifler und Zauderer, Pedanten und Nörgler, der Kriecher und „Radfahrer-Typ“, asketische Hypochonder, am Ende stehen auch hier die Zwangskranken im engeren Sinne.

Der gesunde Mensch mit zwanghaften Strukturanteilen ist ausgezeichnet durch Stabilität, Tragfähigkeit, Ausdauer und Pflichtgefühl. Er ist strebsam und fleissig, planvoll und zielstrebig, da er meist auf weite Ziele ausgerichtet ist, interessiert ihn mehr, was er erreichen will, als was er schon hat, weshalb er oft die Gegenwart zu wenig zu geniessen versteht.

Mit seiner Konsequenz, Tüchtigkeit und Zähigkeit, mit seinem Verantwortungsbewusstsein und seinem ausgeprägten Wirklichkeitssinn kann er Grosses erreichen. Solidität, Korrektheit, Zuverlässigkeit, Beständigkeit und Sauberkeit auch im übertragenen sittlichen Sinn, gehören zu seinen Tugenden.

Hysterische Persönlichkeiten

Der Zauber des Neuen, der Reiz, Unbekanntes kennenzulernen, die Freude am Wagnis - sie gehören ebenso zu unserem Wesen wie der Wunsch nach Dauer und Sicherheit.

Damit kommen wir zur vierten und letzten Grundform der Angst, der Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit und vor der Begrenztheit unseres Freiheitsdrangs.

Diese Angst ist das Spiegelbild der beim zwanghaften Menschen besprochenen Angst. Wenn der zwanghafte Mensch die Freiheit, die Wandlung und das Risiko scheute, geht es bei den nun zu schildernden hysterischen Persönlichkeiten um genau Gegensätzliches.

Hysterische Persönlichkeiten streben ausgesprochen nach Veränderung und Freiheit, bejahen alles Neue, sind risikofreudig; ihnen ist die Zukunft, die mit ihren Möglichkeiten offen vor ihnen liegt, die grosse Chance. Dementsprechend fürchten sie nun alle Einschränkungen, Traditionen und festlegenden Gesetzmässigkeiten, die gerade die Werte für den zwanghaften Menschen waren. Mit einem Sprichwort ausgedrückt: Sie leben nach dem Motto „einmal ist keinmal“, das heisst, nichts ist letztlich verbindlich und verpflichtend, nichts hat Anspruch auf ewige Gültigkeit.

Wie wird es nun aussehen, wenn man, in der Sprache unseres Gleichnisses, die zusammenziehende, konzentrierende Schwerkraft vernachlässigt, und überwiegend den Gegenimpuls der mittelpunktflüchtigen Fliehkraft zu leben versucht? Das würde bedeuten, dass man von Augenblick zu Augenblick lebt, nicht mit festen Plänen und klaren Zielen, sondern immer in der Erwartung von etwas Neuem, auf der Suche nach neuen Reizen, Eindrücken und Abenteuern, ablenkbar daher und verführbar durch den jeweils gerade vorherrschenden Reiz oder Wunsch, der sich aussen oder innen anbietet. Allgemein gültige, verbindliche Ordnungen werden vorwiegend unter dem Aspekt der Freiheitsbeschränkung erlebt, und daher, wenn möglich abgelehnt oder vermieden. Die so erstrebte Freiheit ist mehr eine Freiheit von etwas als für etwas.

Man fürchtet am meisten die uns unvermeidlich begrenzenden Seiten des Lebens und der Welt, die wir als die Wirklichkeit, die „Realität“ zu bezeichnen pflegen. Die Welt der Tatsachen also, an die wir uns anpassen, die wir hinnehmen müssen, aus der Erkenntnis unserer Abhängigkeit von Lebensgesetzlichkeiten.

Mit dieser Realität geht man nun recht grosszügig um: Man stellt sie in Frage, man relativiert, bagatellisiert oder übersieht sie, man versucht sie zu sprengen, sich ihr zu entziehen und was es sonst noch an Möglichkeiten gibt, ihr auszuweichen, sie nicht anzuerkennen. Damit erlangt man eine Scheinfreiheit, die mit der Zeit immer gefährlicher zu werden pflegt, weil man so in einer unwirklichen, illusionären Welt lebt, in der es nur Phantasie, Möglichkeiten und Wünsche gibt, keine begrenzenden Realitäten.

Aber je mehr man sich von der Realität entfernt, umso mehr bezahlt man seine Scheinfreiheit damit, dass man sich in der „wirklichen Wirklichkeit“ nicht auskennt, mit ihr nicht umgehen kann.

Eine der Realitäten unseres Daseins ist das schon erwähnte Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung, Handlung und Folge. Es zwingt uns in eine Gesetzlichkeit, die wir nicht ungestraft bagatellisieren können. Aus dem Gefühl, dass ihn dieses Kausalgesetz nur einengt, zur Konsequenz und zu Verzichten zwingt, versucht der Hysteriker, sich ihm durch Vogel-Strauss-Politik zu entziehen.

Er neigt naiv dazu, zu hoffen, dass vielleicht gerade für ihn die Kausalität und die Folgerichtigkeit von Geschehensabläufen nicht gilt, oder wenigstens nicht in der gerade in Frage stehenden Situation. Er ist von seinem Wunsch erfüllt, von dem, was er im Augenblick haben, erreichen möchte, dass er sich über die möglichen Konsequenzen hinwegsetzt; er denkt sozusagen nur final und überspringt die Kausalität, was ihm eine ungemein suggestive Wirkung verleihen kann.

Grosszügig geht der Hysteriker auch mit der Realität „Zeit“ um. Pünktlichkeit, Zeitplanung und Zeiteinteilung sind ihm lästig, erscheinen ihm als pedantisch und kleinlich, was nicht selten allerdings auf Kosten anderer geht. Oder die biologische Realität, unsere Abhängigkeit von geschlechtsbedinten Gegebenheiten, von Reifungsprozessen uns vom Altern. Auch da will man sich nicht festlegen lassen; man möchte möglichst lang unverbindlich Kind, zumindest jugendlich bleiben, weil einem die Welt dann noch manches nachsieht und man noch nicht voll verantwortlich zu sein braucht.

Das Altern - das kann man ja auch durch mancherlei Mittel aufhalten, man ist so alt wie man sich fühlt, und braucht nicht jedem sein wahres Alter zu nennen. Wenn man nur alles vermeidet was einen alt erscheinen lässt, kann man die Illusion ewiger Jugend aufrecht erhalten.

Der hysterische Mensch und die Liebe

Der hysterische Mensch liebt die Liebe. Er liebt sie wie alles, was ihn in seinem Selbstwertgefühl zu steigern vermag; den Rausch, die Extase, die Leidenschaft; er steigert sich gerne in Höhepunkte des Erlebens. Im Sexuellen liegen die Dinge schwieriger; erotische Spiele, zärtliches Vorspiel ist ihnen oft wichtiger als die Erfüllung sexueller Wünsche. Beide Geschlechter sehen im Sexus gern ein Mittel zum Zweck, sowohl zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls als auch ihres Machtwunsches über den Partner.

Je mehr es sich nun um eigentlich hysterische Persönlichkeitsstrukturen handelt, umso mehr wächst die fordernde Haltung, und das Bedürfnis nach Bestätigtwerdenwollen nimmt überwertige Formen an. Dann wird die Liebesbeziehung eine Einrichtung, die man zur Selbstbestätigung braucht, die immer erneut von der eigenen Unwidestehlichkeit Zeugnis ablegen soll. Denn das Selbstwertgefühl wird bei ihnen vorwiegend aus solchen Erfolgen aufgebaut, aus der von einem anderen zurückgespiegelten Bewunderung, aus dem Begehrtwerden.

Der Hysteriker braucht den Partner; aber nicht, weil er ohne ihn nicht lebensfähig zu sein glaubt, wie der Depressive, sondern als Spiegel, in dem er sich als liebenswert gespiegelt sehen will, zur Aufwertung seines labilen Selbstwertgefühls. Sein Narzissmus, seine Eigenliebe bedarf immerwährender Bestätigung; er unterliegt deshalb leicht Schmeicheleien, die er nur zu gern glaubt. So braucht er den Partner vor allem, dass der ihn seines Charmes, seiner Schönheit, seiner Bedeutung und sonstigen Vorzüge versichert.

Solche so stark auf dem Bestätigt-werden-Wollen fussenden Beziehungen sind natürlich keineswegs krisenfest; der Partner kann diese Bedürfnisse kaum ausreichend erfüllen.

Da ihr Liebesanspruch zu gross ist, durchziehen Enttäuschungen ihr Leben; Unzufriedenheit, Launen, Verstimmungen und fordernde Anklagen nach immer erneuten Liebesbeweisen, bei denen finanzieller Aufwand und öffentlicher Erfolg des Partners, in dem man sich, als sei es der eigene, spiegeln möchte, keine geringe Rolle spielen. Da man sein Selbstwertgefühl fast ausschliesslich aus den Liebesbeweisen bezieht, ist man darin unersättlich, und die Mittel und Wege, sie zu erzwingen, sind vielfältig.

Wenn man von der Liebe oder der Ehe illusionäre Erwartungen hat und mehr fordert, als man selbst zu investieren bereit ist, muss man immer wieder enttäuscht werden; gewöhnlich erlernt man diesen Zusammenhang indessen nicht und bleibt auf der Suche nach „der grossen Liebe“. Man findet daher in den Partnerbeziehungen hysterischer Persönlichkeiten die häufigsten Trennungen und Neuanfänge,weil die letzteren jeweils für die vergangenen Enttäuschungen entschädigen sollen, werden neue Beziehungen von Beginn an überfordert, worin bereits wieder der Keim zum scheitern liegt.

Die Hysterie setzt in der letzten der kindlichen Entwicklungsphasen an – etwa um das 4. bis 6. Jahr, in der das Kind sich mit den vorgefundenen Vorbildern identifiziert und die ersten Vorformen seiner späteren Einstellung zum eigenen und zum anderen Geschlecht erwirbt. Prinzipiell gibt es dann folgende Möglichkeiten: Man wiederholt die einstige kindlich-verehrende oder idealisierende Einstellung zum gegengeschlechtlichen Elternteil oder einem Geschwister am Partner, erwartet also von ihm den Traum-Mann, die Traum-Frau. Oder man überträgt die alten Enttäuschungen, Angst oder Hass, die man an den kindlichen Bezugspersonen erworben und nicht verarbeitet hat, also seine negativen Erfahrungen, auf den Partner als Erwartung, sodass die späteren Beziehungen von vornherein mit dem Vorurteil belastet sind, dass Männer oder Frauen so seien, wie man sie erstmals erlebt hatte.

Man projiziert dann das ehemalige Vater- oder Mutter-Bild auf den Partner oder die Partnerin, und stellt sich auf diese seine Projektion so ein, wie man zu den Urbildern eingestellt war, wird dann weder dem Partner noch seiner eigenen Partnerrolle gerecht, weil man zu sehr in der alten Sohn- oder Tochterrolle stecken bleibt. Der von der Mutter enttäuschte Sohn kann einen Frauenhass entwickeln und sich an den Partnerinnen für die ehemaligen Enttäuschungen rächen, indem er etwa wie Don Juan Frauen verführt und dann wieder verlässt, nun ihnen das zuführend, was er einst von der Mutter erlebte. Die am Vater enttäuschte Tochter rächt sich auf ihre Weise am Mann: Sie kann einen Männerhass entwickeln oder zur falsch verstandenen emanzipierten Frau werden, die nicht aus Gerechtigkeit und Selbstwertgefühl die Gleichwertigkeit der Geschlechter anstrebt, sondern den Spiess umdrehen möchte und aus Rache in der Forderung nach Gleichberechtigung eigentlich die Vormacht der Frauen meint. Oder sie wirft sich an viele Männer weg, um den Vater damit zu treffen („wenn du mich nicht liebts, bin ich eben nichts wert und kann mich wegwerfen“).

Ein weiteres Beispiel für die Abhängigkeit von den frühen Bezugspersonen, von ihrem „Familienroman“, ist bei hysterischen Menschen darin zu erkennen, dass sie nicht selten in Dreiecksbeziehungen geraten, in denen sie unbewusst ihre Stellung zwischen den Eltern wiederholen, was vor allem bei Einzelkindern dieses Strukturkreises zu finden ist. Sie geraten, scheinbar ungewollt und wie schicksalshaft, in solche Dreiecksbeziehungen - oft von ihnen so formuliert, dass es offenbar ihr Verhängnis sei, dass alle Frauen bzw. Männer, die ihnen gefallen, immer schon gebunden seien. In Wirklichkeit suchen sie indessen bereits gebundene Partner - sie lassen sich mit ihnen schon mit dem Wissen ein, dass sie nicht frei sind, und wiederholen damit die alte Rivalität, die sie als Sohn oder Tochter zum Vater bzw. zur Mutter hatten.

Der lebensgeschichtliche Hintergrund

Wie kann es nun dazu kommen, dass die Angst vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit so überwertig erlebt wird oder dass, von der Impulsseite her gesehen, der Impuls zum Zentrifugalen, Mittelpunktsflüchtigen, also zur Veränderung, so einseitig gelebt wird? Anlagemässig entgegenkommende Faktoren sind eine angeboren Lebhaftigkeit und Ansprechbarkeit im Emotionalen, grosse Spontaneität und den lebhaften Drang, sich auszudrücken, sich mitzuteilen, inneres Erleben nach aussen darzustellen, eine Kontaktfreudigkeit also. Angeborener Charme und oft auch Schönheit bringen es mit sich, dass sie von früh an Sympathie erwecken; sie sind leicht liebzuhaben und es daher gewohnt zu gefallen, einfach weil sie sind, wie sie sind; sie werden als reizend empfunden und spüren das natürlich bald.

Nach der Erfahrung der Psychoanalyse liegt der Ansatz zu möglichen hysterischen Entwicklungen um das 4. und 6. Lebensjahr. In diesem Alter hat das Kind, nun dem Kleinkindalter entwachsend und erwachsener werdend, wichtige Entwicklungsschritte zu vollziehen. Es hat inzwischen reichere Fähigkeiten und Verhaltensmöglichkeiten erworben, wird aber nun auch vor neue Aufgaben gestellt. Es soll allmählich in die Welt der Erwachsenen hineinwachsen, deren Spielregeln kennenlernen; es soll in den ersten Ansätzen seine Geschlechtsrolle als Mädchen oder Junge und vorahnend die Zukunft vorwegnehmen als ein Feld der Bewährung und des sich Messens mit anderen. Die Reife und das Verständnis der Eltern ist hier besonders wichtig, braucht nun das Kind doch gesunde Leitbilder für seinen tastenden Entwurf von sich selbst, der zu einem gesunden Selbstwertgefühl und schliesslich zur Identitätsfindung führen soll.

Ergänzende Betrachtungen

Versuchen wir eine ansteigende Linie hysterischer Persönlichkeitsstrukturen aufzuzeigen vom gesunden Menschen mit hysterischen Persönlichkeitsanteilen bis zu leichteren und schweren Störungen in diesem Strukturkreis, sähe diese etwa so aus: lebendig impulsive Menschen mit betonterem Geltungsdrang und Eigenliebe – narzisstisches Bedürfnis nach Bestätigtwerden und Mittelpunkt sein Wollen – überwertiger Geltungsdrang und Kontaktsucht – Vater-Töchter und Mutter-Söhne, die sich nicht vom Familienroman abgelöst haben – hysterische Unechtheit, Rollenspiel und Realitätsflucht bis zur Hochstapelei – ewige Backfische und Jünglinge – männer- oder frauenfeindliche Persönlichkeiten, die ihre Geschlechtsrolle nicht annehmen, nicht selten in die Homosexualität ausweichen – „kastrierende“, destruktive Frauen mit ausgeprägtem Männerhass, Don-Juan-Typen mit Rachehaltungen der Frau gegenüber – Phobien – schwer hysterische Krankheitsbilder mit seelischer und körperlicher Symptomatik, welch letztere sich auf kein Organsystem festlegen lässt, bei einer Bevorzugung der Extremitäten (Lähmungserscheinungen).