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Psychologie der Liebe

von Jürg Willi
Entscheidender als Erfolg ist das Gelingen wichtiger menschlicher Beziehungen. Da hat jeder Mensch seine Chancen.

Die Zurückhaltung der Fachleute gegenüber dem Thema Liebe

Das Verständnis von Liebe, wie es aus verborgenen Sehnsüchten und Hoffnungen von Klienten herauszuhören ist, findet sich darin begründet, dass der Mensch unvollständig geboren wurde und ständig in einem inneren Kampf steht, um vollständiger zu werden. Dieses Wahrnehmen des anderen als eines der ständig auf der Suche nach seinem Weg ist, lässt das Bedürfnis entstehen, ihn bei dieser Suche zu unterstützen. Jacob Needleman, ein amerikanischer Religionsphilosoph nennt das die vermittelnde Liebe.

Auch in meinem Verständnis beruht Liebe nicht in der Befriedigung definierter Bedürfnisse, sondern ist ein Prozess des Werdens, ein Prozess der Entwicklung zweier Menschen in der Wechselwirkung ihrer Beziehung, eine Koevolution. In der Liebe stellen zwei Menschen sich wechselseitig die Erfüllung und Verwirklichung ihrer tiefsten Sehnsüchte in Aussicht.

Doch die angebotenen Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung bleiben eingeschränkt durch die unausweichliche Begrenzung der wechselseitigen Verständigung und Ansprechbarkeit. Das Ringen um die Verständigung und das Aufrechterhalten der Hoffnung, trotz Unvollkommenheit ihrer Erfüllung, sind wesentliche Qualitäten der Liebe.

Ist Verliebtsein für Dauerhaftigkeit und Glück einer Paarbeziehung wichtig?

Verliebtsein hat unter Psychotherapeuten keinen guten Ruf. Es gilt als ein Zustand der Illusion der projektiven Verzerrung, ja, als eine maniforme Psychose, jedenfalls als ein Zustand, wo der Realitätsbezug verloren geht und die Betroffenen keinem rationalem Argument mehr zugänglich sind.

Die Liebe auf den ersten Blick erscheint weit treffsicherer als vermutet. Es ist, als wären Menschen fähig, in Sekundenschnelle intuitiv die wesentlichen Aspekte eines potenziellen Liebespartners zu erfassen.

Liebesbeziehungen scheinen zumindest auf den ersten Blick, irrationalen Regeln zu folgen.

Was heisst Selbstverwirklichung in der Liebe?

Ich vertrete die These, dass der Mensch sich grundsätzlich nicht in mitmenschlicher Unabhängigkeit, sondern in Beziehungen entwickelt, und dass Liebesbeziehungen das Medium für die Entfaltung, Entwicklung und Verwirklichung des intimsten persönlichen Bereiches sind. In einer Liebesbeziehung begegnen sich zwei suchende, unfertige und ungesättigte Menschen, die hoffen, in und durch die Beziehung ihr persönliches Potenzial verwirklichen zu können und zu neuen Entwicklungen aufzubrechen.

Liebesbeziehung als Beantwortetwerden in der persönlichen Verwirklichung

Man möchte einen Menschen haben, von dem man in seinen innersten Möglichkeiten verstanden und bejaht wird, dem man sich in seinen Ängsten und Schwächen zeigen kann, ohne beschämt zu werden, bei dem man sich sicher und geborgen fühlen kann, ohne Angst haben zu müssen, sich auszuliefern und in seinen Gefühlen missbraucht zu werden, einen Menschen, der einen umhegt und pflegt, wenn es einem schlecht geht, zu einem steht bei Misserfolgen und stolz auf einen ist, wenn man erfolgreich ist.

Man möchte auch auf Fehler und Vermeidungstendenzen hingewiesen und kritisch herausgefordert werden. Man möchte miteinander den Weg suchen, gemeinsam die Hindernisse und Schwierigkeiten bewältigen und miteinander durch die Tiefen und Höhen des Lebens gehen. Man möchte im Liebespartner eine Person haben, der es nicht gleichgültig ist, wie man gekleidet ist, die einen darauf hinweist, dass man Schuppen auf den Kleidern hat oder übel riecht, die bemerkt, dass man traurig ist oder müde aussieht, kurz, eine Person, die auf mich persönlich Bezug nimmt.

Jeder Mensch ist ein in seinem Selbstwertgefühl verunsichertes Wesen, jeder leidet an Defiziten und Schwächen, ist auf der Suche, wie er diese Unsicherheiten überwinden kann.

Die spezifische Attraktion zwischen zwei Menschen machen nicht nur positive Qualitäten wie Stärke, Schönheit oder Intelligenz aus. Die spezifischere Anziehung geht vielmehr oft von den verdeckten Unsicherheiten und Schwächen einer Person aus, von ihrer Sehnsucht, diese zu überwinden. Die Vorstellung, dem anderen im Finden seines Weges Unterstützung geben zu können, kann eine besondere Anziehung ausüben. Man möchte dem anderen dazu verhelfen, sich als das zu verwirklichen, was er im Grunde ist.

Im intimen Bereich der persönlichen Entfaltung und Entwicklung ist eine Person auf das Beantwortetwerden durch einen Partner angewiesen. Der Partner bietet einem quasi den Raum an, die Nische, in die hinein sich die Person in ihren intimen Möglichkeiten ausfaltet. Die Qualität ihrer Entfaltung korreliert dabei mit der Qualität des Beantwortetwerdens.

Selbstverwirklichung als Möglichkeit, sein Potenzial in einer Liebesbeziehung zu verwirklichen

In einer realen Liebesbeziehung wird das Potenzialprofil der Person nie ganz dem Valenzprofil des Partners entsprechen – sie müssen lediglich ausreichend zueinander passen. Für eine Liebesbeziehung wird es in der Regel Voraussetzung sein, dass man sich in grundlegenden Aspekten vom Partner positiv beantwortet fühlt und in seiner Entfaltung bestätigt wird, also etwa in der körperlichen Erscheinung, in der Entfaltung als Mann oder als Frau, in der sexuellen Verwirklichung, in den grundlegenden Anschauungen über das Leben. Im beruflichen Bereich möchte man in seinen Interessen vom Liebespartner beantwortet werden, nicht notwendigerweise aber in der beruflichen Kompetenz.

Das mangelnde Passen von Potenzial des einen und Valenzen des anderen wird die Partner veranlassen, miteinander um Verständigung zu ringen.

Liebende werden nur ungern zugeben, dass zwischen ihnen eine Rivalität um den entscheidenden Einfluss auf die Beziehung besteht. Sie streben die Harmonie ihrer Pläne an und wollen sich wechselseitig die volle Unterstützung zusichern. Sie träumen davon, vom Partner bedingungslos akzeptiert und unterstützt zu werden. Die Realität ist anders. Schon bei der Partnerwahl sucht man sich intuitiv einen etwa gleichstarken Partner. Es ist wie in einem Tennismatch: Die höchste Entfaltung des eigenen Potentials erreichen zwei etwa gleich starke Partner.

Zwischen den Partnern muss ein Gleichgewicht von Macht und Einfluss gewahrt bleiben, von Anfang an und bis dass der Tod oder das Liebeszerwürfnis die Partner scheidet. Die Machtbalance lässt sich an der Möglichkeit feststellen, das eigene Potenzial in und durch die Beziehung ebenbürtig mit dem Partner zu verwirklichen, wenn meist auch in unterschiedlichen Funktionen.

Ist das nicht so, so gibt es destruktive Möglichkeiten, den Ausgleich herbeizuführen. Man kann die Beachtung des Partners erzwingen durch Krankheit, Alkoholismus, übertriebene Zuwendung zu den Kindern oder zu einem Tier oder mit sexuellen Aussenbeziehungen. Andererseits kann versucht werden, die Potenzialentfaltung des Partners zu blockieren, indem man ihn entwertet, behindert und seinen Erfolg durchkreuzt.

Je länger das Zusammenleben dauert und je sicherer man sich des Partners fühlt, desto stärker werden auch die Bedürfnisse, sich in der Beziehung gehen lassen zu können und sich mal ein regressives kindisches und unkontrolliertes Verhalten leisten zu dürfen. Die Gefahr besteht, dass der Partner dieses Verhalten ebenfalls in regressiver Weise beantwortet und sich ein destruktiv beantwortetes Wirken entwickelt mit eskalierenden verletzenden und entwertenden Vorwürfen, Rechthaberei, Verteidigung, Rechtfertigung und Gegenangriff.

Liebe schlägt in Hass um, wenn nachhaltig der Eindruck entsteht, der Partner blockiere einem böswillig die Entfaltung des eigenen Potenzials, er verweigere einem aus persönlicher Verachtung, Nachlässigkeit oder Missgunst eine positive Beantwortung des eigenen Wirkens oder beute die Abhängigkeit, in die er einen zu versetzen vermochte, in gemeiner Art aus. Hass besteht aus enttäuschter Liebe. Man wird einen Menschen nicht hassen, wenn nicht im Hintergrund noch verletzte Liebesglut glimmen würde. Ist die Liebe erloschen, geht Hass in Gleichgültigkeit über.

Beziehungsdilemmas in der Selbstverwirklichung der Liebenden

Wenn beide Partner der Anspruch erheben, ihr persönliches Potenzial in und durch die Beziehung zum Partner optimal zu verwirklichen, kommt es zwangsläufig zu Interessenkonflikte zwischen ihnen. Es gibt eine Reihe konflikthafter Dilemmas, die der Selbstverwirklichung in der Liebe inhärent (lat. an etwas kleben) sind.

  • --> Das Dilemma Egoismus u. Altruismus (selbstlose Denk- u. Handlungsweise) in der Liebe.

Prinzip Eigennutz der Selbstverwirklichung in der Liebe

Man hofft, in der Liebesbeziehung sein intimstes persönliches Potenzial entfalten und verwirklichen zu können.Dazu ist man auf die wohlwollende, kompetente, aber auch kritische Beantwortung des Liebespartners angewiesen.Um diese Beantwortung differenziert und engagiert zu erhalten, muss man der Selbstentfaltung des Partners ebenso Sorge tragen wie der eigenen.

  • --> Das Dilemma der Liebe zwischen Selbstbehauptung und Rücksichtnahme lautet:

- Setze ich mich gegen den Partner durch, gewinne ich an Selbstbestätigung, riskiere aber die Demotivation des Partners.
- Beachte ich die Ansprüche des Partners, so gewinne ich an Differenzierung unserer Auseinandersetzungen, muss aber die Ansprüche des Partners den meinigen gleichstellen. Nichts ist verlustreicher als ein Sieg über den Partner.

  • --> Das Dilemma von Kooperation und Abgrenzung:

- Kann ich mein Potenzial besser ohne den Partner verwirklichen, oder
- kann ich mein Potenzial besser gemeinsam mit dem Partner verwirklichen?

  • --> Das Dilemma von Bindung und Freiheit, von Dauer und Wechsel:

- Entweder ich baue mit dem Partner eine gemeinsame Welt auf, die Bestand hat und weiter wächst, womit aber mein Potenzial im gemeinsam erschaffenen gebunden ist,
- oder ich halte mich frei und ungebunden, schaffe mit meinem Potenzial aber keine verbindliche Wirklichkeit

Wer sich verbindlich in den Prozess einer Liebe einlässt, kann nicht mehr unbeschadet aussteigen. Der Spielraum für Wandel und Veränderung wird geringer, das Potenzial ist gebunden, es kann das Gefühl aufkommen, gefangen und von den äusseren Verhältnissen fremdbestimmt zu sein, selbst dann, wenn man diese Verhältnisse selbst geschaffen und gestaltet hat.

Wer sich in einer Liebesbeziehung frei und ungebunden hält, schafft keine verpflichtenden Bindungen, aber seine Selbstverwirklichung bleibt dementsprechend unbeantwortet, es fehlt die Qualität einer miteinander geschaffenen Welt.

  • --> Das Dilemma des Angezogenwerdens durch Stärke oder Schwäche in der Liebe lautet:

- Entweder ich wähle mir einen Partner, der allgemein bewundert und begehrt ist, gehe dann aber das Risiko ein, ihn nicht für mich behalten zu können und ihm nicht gewachsen zu sein,
- oder ich wähle mir einen Partner mit offensichtlichen Schwächen und Defiziten, dessen ich mich sicherer fühlen kann, weil ich von ihm gebraucht werde, der mir aber nur eine eingeschränkte persönliche Entfaltung ermöglicht.

Die Dilemmas können durch traumatisierende Vorerfahrungen akzentuiert sein. Wer sich in früheren Beziehungen ausgebeutet und betrogen fühlte, wird rascher auf jedes Anzeichen einer möglichen Wiederholung anspringen. Wer von der Mutter vereinnahmt worden war, wird eher darauf bedacht sein, sich Freiheit und Ungebundenheit zu wahren, wer sich als Kind verlassen fühlte, wird eher alles Bindende und Gemeinschaftliche stärken wollen.

Weshalb lassen Männer und Frauen sich bei so vielen Verständigungsschwierigkeiten überhaupt aufeinander ein?

Nach unserem Verständnis entsteht eine Liebesbeziehung nicht primär aus sexueller Anziehung oder aus der Suche nach wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung, sondern als Prozess, in welchem zwei unfertige, sich selbst nicht genügende Menschen aufeinander treffen, die einander beim Suchen ihres Lebensweges begleiten und unterstützen können.

So entsteht im Verliebtsein ein Wachstumsklima für die Ermöglichung neuer Entwicklungen. In einer archaischen und wenig bewussten Weise kann jeder aus dem Partner geschlechtstypisches Verhalten und Handeln herauslieben.

Nach Gray, brauchen Männer Frauen, um sich mit ihrer Stärke und Geschicklichkeit bewähren zu können und ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Frauen möchten laut Gray darauf vertrauen, dass jemand da ist, der fest zu ihnen steht, der sie mit Energie erfüllt.

Anderseits möchten die Frauen aus den Männern etwas machen, sie sehen in ihm einen Jungen, der einer Nacherziehung bedarf, der zu kontrollieren und dessen Energie zu kanalisieren ist.

Hat einen ursprünglich angezogen, was einen jetzt stört? Diese Frage wird von rund einem Drittel positiv beantwortet. Was besonders begehrenswert war, zeigt unerwünschte Nebenwirkungen. Was den Mann jetzt einengt und er als unerträgliche Kontrolle empfindet, kam seinem ursprünglichen Wunsch nach häuslicher Geborgenheit bei einer Frau entgegen, dem Wunsch, einen Ort zu haben, wo er hingehört, wo er zu Hause ist.

Wenn die Frau jetzt unter dem Freiheitsdurst des Mannes leidet und den Eindruck hat, ihn nicht an sich binden zu können, so hatte sie das am Anfang häufig angezogen. Sie fühlte sich herausgefordert, den Mann als freiheitsdurstigen Abenteurer zu zähmen, in der Gewissheit, dass der Mann, auch wenn er wegstrebt, schliesslich doch wieder zu ihr zurückkehren wird.

Es lässt sich vermuten, dass die archaischen Sehnsüchte und Erwartungen an das andere Geschlecht auch in heutigen Partnerbeziehungen wirksam sind, genauso wie die archaischen Ängste. Es ist die Sehnsucht des Mannes nach dem Umsorgt- und Genährtwerden durch die Frau und die Sehnsucht der Frau nach dem Gechütztsein durch die Kraft und Tapferkeit des Mannes. Es ist die Angst des Mannes vor dem Gefangensein, Zerstörtwerden und Verschlungenwerden durch die Frau und es ist die Angst der Frau, im Stich gelassen zu werden, die Angst vor der Pflichtvergessenheit des Mannes und vor seiner Macht und Herrschaft. Es ist die Angst vor der verschlingenden Mutter und dem abwesenden Vater.

Nach C.G.Jung hat jeder im anderen Geschlecht sein archetypisches Gegenstück. Die Anima ist die Weiblichkeit im Unbewussten des Mannes. Sie entwickelt sich im Umgang mit der Mutter, aber auch mit den Frauen der weiblichen Ahnenreihe und mit den weiblichen Personifikationen in Träumen, Phantasien, Mythen und Märchen. Männer erleben die unbewusste Weiblichkeit in ihren Projektionen auf Frauen, aber auch in den Mythen als Elfen, Feen, Königinnen, Göttinnen, als Madonna, Heilige oder Hexe.

Im Verliebtsein werden Animus und Anima auf Personen des anderen Geschlechts projiziert. In der Enttäuschungsphase wird wahrgenommen, dass das Bild, das projiziert wurde, nicht der Realität entspricht.

Die Animus-Anima-Kollusion

  • ---> Der Mann intendiert die Realisierung des Animus und verdrängt und delegiert seine weibliche Seite, seine Anima, auf die Frau.
  • ---> Die Frau intendiert die Realisierung der Anima, verdrängt u. delegiert ihren Animus auf den Mann.

Das führt zu einer positiv erlebten Ergänzung, in der der Mann sagen kann, ich kann so männlich sein, weil du so weiblich bist, und die Frau, ich kann so weiblich sein, weil du so männlich bist. Aber das, was man delegierend im anderen fördert, macht einem auch Angst, bedroht einen im anderen, macht einen von ihm abhängig. Der andere muss in der Entfaltung des ihm übertragenen Anteils unter Kontrolle gehalten werden. Es drohen Machtunterschiede zu entstehen, denen man sich unerwarteterweise ausgeliefert fühlt. Man beginnt gegen die delegierte Anima bzw. den Animus zu kämpfen. Die verdrängt-delegierte Anima bzw. der Animus wird in dem Mass weniger bedrohlich, wie sich Frau und Mann den eigenen verdrängten Animus- bzw. Animaanteilen öffnen können.

Die Bereicherung durch die Verschiedenheit von Mann und Frau

Die Herausforderung der persönlichen Entwicklung durch das andere Geschlecht durchläuft verschieden Phasen:

  • Im Stadium des Verliebtseins eröffnen die Partner einander einen neuen Lebenshorizont, wo innerhalb der Zweierbeziehung die Frau dem Mann ermöglicht, sich männlich zu entfalten und zu bestätigen, und die Frau in ihrer Fraulichkeit vom Mann stimuliert und in ihrer Fraulichkeit benötigt wird. Beide bewundern und anerkennen einander in ihrer Andersartigkeit.
  • In einer zweiten Phase, häufig der Enttäuschungsphase fühlt man sich von dem, was ursprünglich attraktiv war überfordert und bedroht. Mann und Frau befürchten das Überhandnehmen des gegengeschlechtlichen Einflussen. Der Mann will sich gegen die Einflusssphäre der Frau abgrenzen und verhält sich defensiv und wegstrebend. Die Frau versucht eher die Bindung und Zusammengehörigkeit zu festigen, und fühlt sich durch das wegstreben des Mannes bedroht. Mit der Unfähigkeit, auf die geschlechtstypische Vorwürfe des Partners hinzuhören, verpassen Mann und Frau oft die Chance, sich vom anderen Geschlecht korrigieren zu lassen und von einander zu lernen.
  • In einer dritten Phase, die oftmals erst in der zweiten Lebenshälfte auftritt, geht es um die Öffnung gegenüber den eigenen verdrängten Aspekten des anderen Geschlechtes, um die Lösung der Ambivalenz zwischen Anziehung und Angst vor dem delegierten Anteil des Gegengeschlechts.

Sexualität – die bindende und zerstörerische Energie der Liebe

Wir können unterscheiden zwischen der Sexualität der Lust und der Sexualität der Zugehörigkeit.

  • Die Sexualität der Lust strebt nach intensivster Steigerung der Lust durch Verführung, Eroberung, Herausforderung und Überraschung bis zu Kampf, Hass und Erniedrigung.
  • Die Sexualität der Zugehörigkeit strebt nach Harmonie, Vertrautheit und Einswerden.

Die Integration dieser zwei Beziehungsmodi in einer Liebesbeziehung ist oft schwierig. Ein Lösungsversuch wäre, das Nebeneinander von Ehebeziehungen und Aussenbeziehungen, was aber mit dem heutigen Leitbild der Liebesehe kaum vereinbar ist.

Wie stehen Liebe und Sexualität zusammen?

Im Allgemeinen gibt es ohne Sexualität keine Liebesbeziehungen und ohne Liebesbeziehung keine dauerhafte Sexualbeziehungen.

Sigmund Freud war in der Frage der Vereinbarkeit von Liebe und Sexualität skeptischer. Der Mann entwickle seine volle Potenz erst, wenn in die Beziehung zum Sexualobjekt auch perverse Komponenten eingehen, die er am geachteten Weib nicht zu befriedigen getraue. Einem erniedrigten Weibe, das ihn nicht in seinen anderen Lebensbeziehungen kennt, widme er am liebsten seine sexuelle Kraft, auch wenn seine Zärtlichkeit durchaus einer Höherstehenden gehöre.

Freud stellt auch fest, dass der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald die Befriedigung bequem gemacht wird.

  • -->>>>> Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben!

Zwischen der Sexualität der Zugehörigkeit und einer Sexualität der Lust ist zu unterscheiden. Erstere ist eine Energie der Festigung sozialer Bindungen, die zweite eine Energie der Sprengung sozialer Beziehungen und Ordnungen.

Sexualität der Lust

Die Sexualität der spontanen, archaischen und unzivilisierten Lust strebt nach zwei Zielen: Man möchte die sexuelle Lust steigern und die persönliche Wirksamkeit in der sexuellen Interaktion erhöhen.

In der sexuellen Lust soll das Begehren bis zum Schmerz gesteigert werden, sie soll ganz im Moment aufgehen, soll kein Vorher und Nachher kennen, sie ist ohne Bindung und ohne Verpflichtung, setzt sich über alle Regeln und Grenzen hinweg, hat Qualitäten des Spiels, des Tanzes und Kampfes, legt sich auf nichts fest, hält sich im Mehrdeutigen und Ambivalenten.

Sexuelle Ausstrahlung und Attraktivität ist nicht nur im Zustand sexueller Erregung wirksam, sondern ist ein Aspekt jeglicher menschlicher Interaktion. Wahrscheinlich ist in jeder mitmenschlichen Begegnung die Frage mit im Spiele, wie eine sexuelle Beziehung mit dem Gegenüber sein könnte und wie man von ihm als möglicher Geschlechtspartner gesehen würde.

Die Sexualität der Lust lebt von der Spannung, der Aufregung und Überraschung. In diesem Sinne unterscheidet sie sich grundlegend von der Sexualität der Zugehörigkeit.

Sexualität der Zugehörigkeit

Die Sexualität der Zugehörigkeit meint den Partner als einmalige Person. Die Partner möchten voneinander hören „so wie mit dir hab ich es noch nie erfahren, du bist so ganz anders als alle andern, dir kann ich mich voll anvertrauen, mit dir zusammen verliere ich meine Ängste, fühle ich mich geborgen. Die sexuelle Vereinigung bestärkt die Liebe und die Idealisierung des Partners.

Die sexuelle Zugehörigkeit schliesst den Partner ganz und exklusiv ein und möchte Ausdruck der ewigen Vereinigung sein. Die Partner gehen in einander auf, sie sind als getrennte Wesen aufgehoben, sie suchen den Gleichklang ihrer Schwingungen, ein gemeinsames Vibrieren, die Erfahrung totaler Harmonie. Sexualität ist eine Qualität der ganzheitlichen Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Sie ist die Erfüllung der Sehnsucht nach bedingungslosem Aufgehobensein in der Liebe, ein bestärkendes Ritual von Vertrautheit und Treue.

Welchen Stellenwert hat die Sexualität in der Ehe?

Heute, im Zeitalter der Wochenendehen, der beiderseitigen auswärtigen Berufstätigkeit, der intensiven Beziehungen mit anderen Personen beiderlei Geschlechts in Beruf und Feizeit, bleibt das Bedürfnis, sich etwas zu bewahren, das nur zwischen den Liebespartnern stattfindet, das exklusiv ihnen vorbehalten ist und mir niemandem anderem geteilt wird.

Sexualität in der Ehe ist wichtig, um der innersten Zusammengehörigkeit körperlichen Ausdruck zu verleihen und sich ihrer zu versichern. Tatsache ist, dass eine intensive geistige Verbindung oder persönliche Freundschaft die Exklusivität einer Zweierbeziehung weit mehr gefährden kann als eine sich auf die Sexualität beschränkte Aussenbeziehung.

Liebe erfordert die Fähigkeit, zu akzeptieren, dass der andere einem, besonders auch im Sexuellen, immer ein Geheimnis bleibt. Die scheinbar mit Liebe unvereinbare sexuelle Zerstörungskraft erweist sich als Bewahrerin der Liebe. Die Liebesdynamik tendiert zu allzu viel Vertrautheit, Harmonie und Nähe, was nicht nur die sexuelle Spannung aufhebt, sondern ganz allgemein die Dynamik der Partnerschaft.

Es ist die Unberechenbarkeit und das Sich-Fremdbleiben in Liebe und Sexualität, welche die Dynamik zwischen den Partnern aufrechterhält. Die Sexualität der Lust bedroht die Liebesbeziehung mit ihrer Spreng- und Zerstörungskraft, aber sie generiert und regeneriert die Partnerbeziehung auch immer wieder aufs Neue.