Skip to main content

Die Revolte des Körpers

von Alice Miller

Entscheidender als Erfolg ist das Gelingen wichtiger menschlicher Beziehungen. Da hat jeder Mensch seine Chancen.

Das Unbewusste jedes Menschen ist nichts anderes als seine Geschichte, die in ihrer Totalität zwar im Körper gespeichert ist, aber unserem Bewusstsein nur in kleinen Teilen zugänglich bleibt.

Welche Konsequenz hat die Verleugnung unserer wahren und starken Emotionen für den Körper? Diese uns auch von der Moral und Religion abverlangt wird. Die Erfahrungen in der Psychotherapie zeigen dass die in ihrer Kindheit misshandelten Menschen nur mit Hilfe einer massiven Verdrängung und Abspaltung ihrer wahren Emotionen versuchen können, das vierte Gebot zu befolgen. Sie können ihre Eltern nicht ehren und lieben, weil sie sie immer noch unbewusst fürchten.

Hinzu kommt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, oft ihr Leben lang hoffen, endlich die Liebe zu erhalten, die sie nie erfahren haben. Diese Erwartung verstärkt die Bindung an die Eltern, die in der Religion als Liebe bezeichnet, als Tugend gelobt wird.

Wenn ein Mensch glaubt, dass er das fühlt, was er fühlen sollte, und ständig versucht, das nicht zu fühlen, was er sich zu fühlen verbietet, wird er krank, es sei denn, er lässt seine Kinder die Rechnung bezahlen, indem er sie als Projektionsfläche für uneingestandenen Emotionen benutzt.

Echte Gefühle lassen sich nicht erzwingen. Sie sind da und haben stets einen Grund, auch wenn uns dieser sehr häufig verborgen bleibt. Ich kann mich nicht zwingen, meine Eltern zu lieben oder auch nur zu ehren, wenn mein Körper mir das verweigert aus Gründen, die ihm gut bekannt sind. Wenn ich aber trotzdem das Vierte Gebot befolgen will, gerate ich in Stress, wie immer wenn ich etwas Unmögliches von mir verlange.

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, braucht es von den Eltern Liebe, das heisst Zuwendung, Beachtung, Schutz, Freundlichkeit, Pflege und Bereitschaft zu kommunizieren.

Diese Sehnsucht wird im späteren Leben auf andere übertragen. Je älter man wird, desto schwieriger wird es, von anderen Menschen die einst ausgebliebene elterliche Liebe zu erhalten. Aber die Erwartungen werden nicht mit dem Älterwerden aufgegeben, ganz im Gegenteil. Sie werden nur auf andere, hauptsächlich auf die eigenen Kinder und Enkelkinder übertragen. Es sei denn, wir werden uns dieser Mechanismen bewusst und versuchen, durch die Aufhebung der Verdrängung und Verleugnung die Realität unserer Kindheit so genau wie möglich zu erkennen. Dann schaffen wir in unserem Selbst den Menschen, der uns die Bedürfnisse befriedigen kann, die seit unsere Geburt oder noch früher auf ihre Erfüllung warten. Nun können wir uns die Beachtung, den Respekt, das Verständnis für unsere Emotionen, den nötigen Schutz, die bedingungslose Liebe, die uns die Eltern verweigert haben, selber geben.

Damit dies geschehen kann, brauchen wir die Erfahrung der Liebe für das Kind, das wir waren, sonst wissen wir nicht, worin sie besteht. Wenn wir das in Therapien lernen wollen, brauchen wir Menschen, die uns so annehmen können, wie wir sind, uns den Schutz, Respekt, die Sympathie und Begleitung geben können, die uns helfen zu verstehen, wie wir so geworden sind, wie wir sind.

In jedem einst misshandelten Erwachsenen schlummert die Angst des kleinen Kindes vor der Strafe der Eltern, wenn es sich gegen ihr Verhalten auflehnen wollte.

Doch sie schlummert nur solange, wie sie ihm unbewusst bleibt. Einmal bewusst erlebt, löst sie sich mit der Zeit auf.

Das Vierte Gebot kann, oberflächlich betrachtet, als eine Lebensversicherung der alten Menschen gesehen werden, die damals, nicht aber heute, in dieser Form nötig war. Doch bei näherem Zusehen enthält es eine Drohung oder gar eine Erpressung, die bis heute wirksam ist. Sie heisst: Wenn du lange leben willst, musst du deine Eltern ehren, auch wenn sie dies nicht verdienen, sonst musst du vorzeitig sterben.

Das heisst nun aber nicht dass wir unseren alten Eltern mit Grausamkeit ihre grausamen Taten heimzahlen müssen, sondern das heisst, dass wir sie sehen müssen, wie sie waren, wie sie mit uns als kleinen Kinder umgingen, um unsere Kinder und uns selbst von diesem Muster zu befreien. Wir müssen uns von den verinnerlichten Eltern trennen, die in uns weiter ihr Zerstörungswerk fortsetzen, nur so können wir unser Leben bejahen und uns zu respektieren lernen. Die Erfahrung der Schwarzen Pädagogik in der Kindheit wird später die Lebendigkeit einschränken und das Gefühl dafür, wer wir eigentlich sind, was wir fühlen und was wir brauchen, erheblich beeinträchtigen oder gar abtöten. Die Schwarze Pädagogik züchtet angepasste Menschen, die nur ihrer Maske vertrauen können, weil sie als Kinder in ständiger Angst vor Bestrafung lebten.

Die gewaltsame Art von „Erziehung“ ist Misshandlung, weil dem Kind nicht nur seine Rechte auf Würde und Respekt für sein Menschsein verweigert werden, sondern auch eine Art totalitäres Regime aufgebaut wird, in dem es ihm unmöglich ist, die erfahrenen Demütigungen, Entwürdigungen und Missachtungen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sich dagegen zu wehren.

Diese Erziehungsmuster werden dann vom Erwachsenen weiter praktiziert, mit den Partnern und eigenen Kindern, am Arbeitsplatz und in der Politik, immer dort, wo die Angst des einst verunsicherten Kindes mit Hilfe der äusseren Machtstellung abgewehrt wird. Auf diese Weise entstehen Diktatoren und Menschenverachter, die als Kinder nie geachtet wurden und später den Respekt mit Hilfe der gigantischen Macht zu erzwingen versuchen.

Der Körper ist der Hüter unserer Wahrheit, weil er die Erfahrung unseres ganzen Lebens in sich trägt und dafür sorgt, dass wir mit der Wahrheit unseres Organismus leben können. Er zwingt uns mit Hilfe der Symptome, diese Wahrheit auch kognitiv zuzulassen, damit wir in Harmonie mit dem in uns lebendigen, einst missachteten und gedemütigten Kind kommunizieren können.

Der starke Wunsch vieler Eltern, von ihren Kindern geliebt und geehrt zu werden, findet seine angebliche Legitimation im Vierten Gebot.

Die Moral kann uns zwar vorschreiben, was wir tun sollten und was wir nicht tun dürfen, aber doch nicht, was wir fühlen müssten. Denn wir können echte Gefühle nicht erzeugen, sie auch nicht töten, wir können sie nur abspalten, uns belügen und unseren Körper täuschen. Manchmal geht es beim Konsum von legalen Drogen (wie Alkohol, Zigaretten oder Medikamenten) um den Versuch, das Loch zu füllen, das die Mutter hinterlassen hat. Das Kind hat nicht die Nahrung bekommen, die es von ihr brauchte, und konnte sie später auch nicht mehr finden. Im drogenfreien Zustand kann diese Lücke buchstäblich als physischer Hunger gespürt werden, als ein Hungerkrampf im Magen, der sich zusammenzieht. Wahrscheinlich wird der Grundstein zur Sucht ganz am Anfang des Lebens gelegt, damit auch der Grundstein zur Bulimie und anderen Essstörungen. Der Körper macht deutlich dass er (in der Vergangenheit) etwas dringend brauchte, als ein winzig kleines Wesen, doch die Botschaft wird missverstanden, solange die Emotionen ausgeschaltet bleiben.

Wir müssen den Eltern, die uns misshandelt haben, keine Dankbarkeit schulden und schon gar keine Opfer. Diese brachten wir ja nur den Phantomen, den idealisierten Eltern, die ja gar nicht existierten. Weshalb fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Warum bleiben wir an Beziehungen kleben, die uns an alte Qualen erinnern? Weil wir hoffen, dass sich dies eines Tages ändern wird, wenn wir nur das richtige Wort finden, die richtige Haltung einnehmen, das richtige Verständnis aufbringen. Aber das würde doch heissen, uns wieder so zu verbiegen, wie wir das in der Kindheit getan haben, um Liebe zu bekommen.

Wenn es uns gelingt diese Hoffnung aufzugeben, fallen auch die Erwartungen von uns ab und damit auch der Selbstbetrug, der uns unser Leben lang begleitet hat. Wir glauben nicht mehr, dass wir nicht liebenswert waren, und beweisen müssten oder könnten, dass wir es sind. Es lag nicht an uns, es lag an der Situation unserer Eltern, an dem, was sie aus ihren Kindheitstraumen gemacht haben, wie weit sie in der Verarbeitung gekommen sind, und daran können wir nichts ändern. Wir können nur unser Leben leben und unsere Einstellung verändern.

Das Schlagen kleiner Kinder ist immer eine Misshandlung mit schwerwiegenden, oft lebenslangen folgen. Die erfahrene Gewalt wird im kindlichen Körper gespeichert und später vom Erwachsenen auf andere Menschen oder sogar Völker gerichtet, oder aber sie wird vom einst geschlagenen Kind gegen sich selbst gerichtet und führt zu Depressionen,, Drogensucht, schweren Erkrankungen, Suizid oder frühzeitigem Tod.

Die Vorstellung, man müsse seinen Eltern bis zum eigenen Tod mit Ehr- Furcht begegnen, ruht auf zwei Pfeilern.

  • Der erste besteht aus der (destruktiven) Bindung des einst misshandelten Kindes an seine Peiniger, wie sie sich nicht selten in masochistischem Verhalten bis zu schweren Perversionen manifestiert.
  • Der zweite Pfeiler besteht aus der Moral, die uns seit Jahrtausenden mit frühzeitigem Tode Droht, falls wir es wagen sollten, unsere Eltern nicht zu ehren, was auch immer sie uns angetan haben.

Jeder, der als Kind geschlagen wurde, ist für Angst anfällig und jeder der als Kind keine Liebe erfahren hat, sehnt sich danach, manchmal sein Leben lang. Diese Sehnsucht die eine Menge Erwartungen enthält, gepaart mit der Angst, bildet den Nährboden zur Erhaltung des Vierten Gebotes. Es ist zu Hoffen, dass mit dem steigenden psychologischen Wissen die Macht des Vierten Gebotes abnehmen könnte zugunsten der Beachtung der lebenswichtigen biologischen Bedürfnisse des Körpers, unter anderem nach Wahrheit, nach Treue zu sich selbst, zu seinen Wahrnehmungen, Gefühlen und Erkenntnissen. Eine Liebe die Ehrlichkeit ausschliesst, kann nicht als Liebe bezeichnet werden.

Einige angeblich richtige Ansichten sind längst von der Wissenschaft als überholt erklärt worden. Dazu gehören beispielsweise die Überzeugungen, dass die Vergebung eine Heilung bewirke, dass ein Gebot wahre Liebe erzeugen könne oder dass das Vortäuschen von Gefühlen mit der Forderung nach Ehrlichkeit vereinbar wäre.

Weil bestimmte Werte wie Integrität, Bewusstheit, Verantwortung oder Treue zu sich selber so wichtig sind, macht es keinen Sinn Realitäten zu verleugnen, die offensichtlich und empirisch nachweisbar sind.

Die Flucht von dem in der Kindheit erfahrenen Leiden lässt sich sowohl im religiösen Gehorsam beobachten als auch im Zynismus, in der Ironie und in anderen Formen der Selbstentfremdung, die sich unter anderem als Philosophie oder Literatur tarnen. Doch letztlich rebelliert der Körper. Selbst wenn er sich vorübergehend mit Drogen, Zigaretten und Medikamenten ruhig stellen lässt, behält er gewöhnlich doch das letzte Wort, weil er den Selbstbetrug schneller durchschaut als unser Verstand, insbesondere wenn dieser dazu erzogen wurde, im falschen Selbst zu funktionieren.

G.Fritschi 03.05